Die gesteigerte Mobilität natürlicher Person kann weitreichende Folgen auch für Unternehmen haben. Dabei kommt dem Ort der Geschäftsleitung (§ 10 AO) als Anknüpfungsmerkmal für die unbeschränkte Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer einer großen Bedeutung zu. Daher sollten insbesondere ausländische Kapitalgesellschaften mit statutarischem Sitz im Ausland darauf achten, den Ort der Geschäftsleitung nicht ungewollt in Deutschland zu begründen, wenn eine Abschirmwirkung vor der deutschen Besteuerung beibehalten werden soll. Aber auch inländische Kapitalgesellschaften sollten dieses Kriterium im Auge behalten. Denn sind juristische Personen in zwei Staaten unbeschränkt steuerpflichtig, so gilt in Abkommensfällen derjenige Vertragsstaat als alleiniger Ansässigkeitsstaat, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung befindet (Art. 4 Abs. 1 und 3 OECD-MA). Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat mit der am 20.2.2024 veröffentlichten Novellierung des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) erstmals sein Verständnis zu § 10 AO artikuliert.
Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung
§ 10 AO definiert die Geschäftsleitung als den Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung.
Unter dem Begriff der Oberleitung soll die Ausübung von Leitungsfunktionen verstanden werden. Mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung soll es sich dabei nach Ansicht des BMF um den Ort handeln, an dem der für die Geschäftsleitung maßgebliche Wille gebildet wird. Unter die Geschäftsleitung fallen alle für die laufende Geschäftsführung notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen, die von einiger Wichtigkeit für das Unternehmen sind. Entscheidend ist, an welchem Ort diese tatsächlich erfolgen, also wo die Verwaltung der Gesellschaft (Tagesgeschäft) gewöhnlich wahrgenommen werden. Diese Maßnahmen umfassen nicht die Festlegung der Grundsätze der Unternehmenspolitik und die Mitwirkung der Gesellschafter an ungewöhnlichen Maßnahmen bzw. an Entscheidungen von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung.
Die Oberleitung als Ausübung von Leitungsfunktionen wird üblicherweise in dafür geeigneten Räumen ausgeübt. Für den Ort der Geschäftsleitung ist nach Ansicht des BMF jedoch eine feste und eigene Geschäftseinrichtung nicht zwingend erforderlich, weshalb der Ort der Geschäftsleitung auch in der Wohnung des Geschäftsführers oder gar auch in den Räumlichkeiten einer eingeschalteten Dienstleistungs- oder Managementgesellschaft liegen könnte (siehe dazu Blog-Beitrag vom 23.02.2024).
Das BMF führt ferner aus, dass die auf Geschäftsreisen getroffenen Geschäftsleitungsentscheidungen wegen des Fehlens einer ortsbezogenen Einrichtung am Tätigkeitsort und des Merkmals der Dauerhaftigkeit grundsätzlich nicht geeignet sein sollen, einen Ort der Geschäftsleitung zu begründen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass nicht jeder Ort, von dem aus ein Geschäftsleiter maßgebliche Entscheidungen trifft, einen Ort der Geschäftsleitung zu begründen vermag. Wie bei der Betriebsstätte nach § 12 Satz 1 AO wird auch eine Geschäftsleitungsbetriebsstätte eine gewisse Regelmäßigkeit erfordern.
Ferner stellt das BMF klar, dass jedes Unternehmen (mindestens) einen Ort seiner Geschäftsleitung haben muss. Falls kein Ort der Geschäftsleitung ermittelt werden kann, soll nach Ansicht des BMF das zuständige Finanzamt den Wohnsitz des Geschäftsführers oder ggf. den Sitz/Wohnsitz der Gesellschafter zugrunde legen können.
Geschäftsleitung an mehreren Orten
Sofern die Geschäfte von mehreren Orten ausgeführt werden (z. B. durch mehrere Geschäftsführer), soll sich der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung dort befinden, wo sich die für das Unternehmen bedeutungsvollste Stelle befindet. Dafür sollen die an verschiedenen Orten getroffenen Entscheidungen gewichtet werden. Welche Kriterien dafür genau herangezogen werden sollen, lässt der AEAO an dieser Stelle offen. Zumindest soll der kaufmännischen Leitung gegenüber der technischen Leitung Vorrang eingeräumt werden.
Für den Fall, dass mehrere Personen gleichwertige Geschäftsführungsaufgaben von verschiedenen Orten aus wahrnehmen und dabei keine Gewichtung möglich ist, sollen nach Ansicht des BMF mehrere Geschäftsleitungsbetriebsstätten bestehen. Während die Rechtsprechung davon ausging, dass dies sehr selten der Fall sein wird, dürfte diese Konstellation in der Praxis zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Dezentralisierung von Geschäftsleitungsfunktionen (z. B. Konzerne mit Matrix-Strukturen), der Einsatz digitaler Kommunikationsmittel (E-Mails, Cloud-Dienste, Videokonferenzen etc.) und die zunehmende Arbeitsform des „Mobile Working“ dürften dazu führen, dass es deutlich aufwändiger, aber auch immer wichtiger wird, den einzigen Ort als Ort der Geschäftsleitung zu bestimmen.
Implikationen
Erstmals wird im AEAO auch das Verständnis des BMF zur Begrifflichkeit des § 10 AO festgehalten. Die Auffassung des BMF entspricht an zahlreichen Stellen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Steuerpflichtige Kapitalgesellschaften mit Sitz im Inland als auch Ausland sind dennoch gehalten, ein ungewolltes Auseinanderfallen von Sitz und Ort der Geschäftsleitung nachweisbar zu vermeiden.
So weist das BMF abschließend darauf hin, dass bei der Beurteilung von § 10 AO stets die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls, wie Art, Umfang, Struktur und Eigenart, des Unternehmens individuell zu berücksichtigen sind. Auch damit ist das BMF auf Linie mit der Rechtsprechung.
Sprechen Sie daher gerne die Autoren oder Ihre gewohnten FGS-Kontakte an, wenn Sie die in diesem Blog-Beitrag diskutierte Thematik der Betriebsstätte ausführlicher erörtern möchten.