EU-Streitbeilegungsrichtlinie ist zum 1. Juli 2019 in Kraft getreten

24.07.2019
Dr. Noemi Strotkemper      Christina Jagenburg

Zur Lösung intra-europäischer Doppelbesteuerungskonflikte können ab dem 1. Juli 2019 Verständigungs- und Schiedsverfahren auch auf Grundlage der EU-Streitbeilegungsrichtlinie 2017/1852 des Rates vom 10. Oktober 2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union durchgeführt werden. In diesem Beitrag werden die Bedeutung der darin vorgesehenen Verfahren für die Praxis ebenso thematisiert wie die Folgen noch nicht fristgerecht erlassener nationaler Umsetzungsgesetze. Dies betrifft auch die Umsetzung der EU-Streitbeilegungsrichtlinie in deutsches Recht durch das EU-Doppelbesteuerungsabkommen-Streitbeilegungsgesetz (EU-DBA-SBG).

Stärkung der Rechte betroffener Steuerpflichtiger im Fokus der EU-Streitbeilegungsrichtlinie

Die EU-Streitbeilegungsrichtlinie zielt darauf ab, zwischenstaatliche Verfahren zur Beilegung von grenzüberschreitenden Doppelbesteuerungskonflikten für Steuerjahre ab 2018 effizienter zu gestalten. Langfristig soll so für betroffene Steuerpflichtige mehr Rechtssicherheit erreicht werden. Gelingen soll dies u.a. durch

  • einen erweiterten Anwendungsbereich für sämtliche aus Steuerabkommen resultierende Auslegungs- und Anwendungsstreitigkeiten;
  • die Schaffung von umfangreicheren verfahrensrechtlichen Regelungen zu Beschwerdeverfahren, Verständigungsverfahren und ggf. ergänzenden Schiedsverfahren; und
  • die neu geschaffenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten zur Einschaltung nationaler Finanzgerichte oder des beratenden Ausschusses, mit deren Hilfe Zurückweisungen von Beschwerden überprüft werden bzw. die Durchsetzung des Verfahrensfortgangs sichergestellt werden kann.

Vor allem die Erweiterung des Anwendungsbereichs der EU-Streitbeilegungsrichtlinie über Gewinnabgrenzungskonflikte zwischen verbundenen Unternehmen bzw. einem Stammhaus und seiner Betriebsstätte stellt eine für die Praxis bedeutsame Neuerung in Abgrenzung zur EU-Schiedskonvention dar. Weil die von der EU-Streitbeilegungsrichtlinie vorgesehenen Streitbeilegungsverfahren nunmehr auch Doppelbesteuerungskonflikte über sonstige Auslegungs- und Anwendungsfragen von Unternehmen und natürlichen Personen erfassen, sind die betroffenen Personen insoweit nicht mehr allein auf Verständigungs- und Schiedsverfahren nach bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen angewiesen.

 

Innovativ erscheinen auch die Begründungspflicht für ergebnislose Verständigungsbemühungen, die Einführung eines Sprungschiedsverfahrens, das unter bestimmten Bedingungen durch Verzicht auf ein zuvor geführtes Verständigungsverfahren direkt einzuleiten ist, sowie die Veröffentlichung der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses bzw. jedenfalls eine Zusammenfassung als Mindestinhalt.

Streitbeilegungsbeschwerden ab dem 1. Juli 2019 für Steuerjahre ab 2018

Die EU-Mitgliedstaaten waren verpflichtet, die EU-Streitbeilegungsrichtlinie vom 10. Oktober 2017 bis zum 30. Juni 2019 in nationales Recht zu gießen. Anträge zur Einleitung von (Beschwerde-)Verfahren können insofern grundsätzlich ab dem 1. Juli 2019 gestellt werden. Einige EU-Mitgliedstaaten sind allerdings mit der Umsetzung noch in Verzug (vgl. Übersicht der EU).

Anwendbarkeit der EU-Streitbeilegungsrichtlinie in Deutschland auch ohne Umsetzungsgesetz

Deutschland zählt zu den Staaten, in denen das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Streitbeilegungsrichtlinie nicht fristgerecht abgeschlossen wurde. Das EU-DBA-SBL soll aber rückwirkend in Kraft treten. Die Rückwirkung wird mit der ausschließlich begünstigenden Wirkung des Gesetzes, das für Steuerpflichtige ein zusätzliches Verfahren einführt, begründet.

 

Für die Übergangszeit hat das Bundesministeriums der Finanzen (BMF) aber eine Verfügung erlassen, wonach die Einleitung der von der EU-Streitbeilegungsrichtlinie vorgesehenen Verfahren auch in Deutschland schon seit dem 1. Juli 2019 möglich ist (vgl. BMF, Schreiben vom 25. Juni 2019 (IV B 3 – S 1317/16/10058). Mit dem Inkrafttreten des EU-DBA-SBG wird dieses BMF-Schreiben dann automatisch gegenstandslos.

 

Vermutlich wird im Herbst 2019 auch noch eine Überarbeitung des Merkblatts des BMF zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren veröffentlicht.

Verhältnis der Verfahren nach der EU-Streitbeilegungsrichtlinie zu anderen Verständigungs- und Schiedsverfahren

Die EU-Streitbeilegungsrichtlinie wird in anderen Abkommen enthaltene Verständigungs- und Schiedsklauseln nicht ersetzen (z.B. Einigungsklauseln in bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen oder in mehrseitigen völkerrechtlichen Verträgen wie der EU-Schiedskonvention oder dem Multilateralen Instrument der OECD und der G20 (MLI)), sondern vielmehr ergänzen.

 

Dies bedeutet: Die betroffene Person kann weiterhin wählen, auf welcher Rechtsgrundlage sie den Antrag auf Einleitung des entsprechenden Verfahrens zur Abwendung einer drohenden oder schon eingetretenen (abkommenswidrigen) Besteuerung stellt (siehe schon Ziff. 2.1.1 und Ziff. 11.1.1 Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren vom 9. Oktober 2018). Durch die Wahl der EU-Streitbeilegungsrichtlinie gelten allerdings zuvor auf anderen Rechtsgrundlagen eingeleitete Verfahren als beendet bzw. ihre Einleitung wird unzulässig. Dieser Vorrang der EU-Streitbeilegungsrichtlinie vor einfachem nationalen Recht ist ihrem Rechtscharakter als sekundärem Unionsrecht geschuldet.

Resümee

Das Inkrafttreten der EU-Streitbeilegungsrichtlinie reiht sich in die in der Post-BEPS-Ära zu beobachtende Tendenz der Weiterentwicklung des Verfahrensrechts für Verständigungs- und Schiedsverfahren ein. Die Verdichtung der Regelungen und die Schaffung von damit einhergehenden Rechtsbehelfen sind als bedeutsame und richtige Schritte in Richtung Tax Certainty zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen, dass der hohen Zahl anhängiger Verständigungsverfahren und ihrer (anhaltenden) Zunahme so leichter begegnet werden kann (vgl. aktuelle Statistik der OECD zu neuen, anhängigen und abgeschlossenen Verständigungs- und Schiedsverfahren aus 2017). Wie die neuen Regelungen der EU-Streitbeilegungsrichtlinie angenommen werden und ob den zuständigen Behörden Kapazitäts- und Kostenprobleme bevorstehen, ist abzuwarten.

 

Durch die Zunahme der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen zur Durchführung von Verständigungs- und Schiedsverfahren sollten sich prozesstaktische Erwägungen nicht allein auf Vor- und Nachteile zwischen nationalen und internationalen Rechtsbehelfen beschränken. Im Dialog zwischen Steuerpflichtigen und ihren Beratern sollten darüber hinaus auch die Unterschiede zwischen  möglichen bilateralen Verfahren zur Vermeidung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten bedacht und reflektiert werden.