Wegzugsbesteuerung: Wegweisendes BFH-Urteil zur Stundung!

11.01.2024 | FGS Blog

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat im sog. Wächtler-Verfahren (Az. I R 35/20, zum Urteil) entschieden, dass die Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) bei einem Wegzug in die Schweiz – obwohl im Gesetz so nicht vorgesehen – dauerhaft und zinslos zu stunden ist und die Stundung allenfalls von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden kann. Die Entscheidung erging zwar zum früheren Recht, d.h. vor der Reform des § 6 AStG durch das ATADUmsG. Sie lässt sich aber auf die ab 1.1.2022 geltende Rechtslage übertragen und gilt erst recht für Wegzüge in einen EU- bzw. EWR-Staat, wobei insoweit auf eine Sicherheitsleistung zu verzichten ist.

Hintergrund und Sachverhalt

Die sog. Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG greift u.a., wenn eine natürliche Person, die Anteile an einer Kapitalgesellschaft im Umfang von mindestens 1% innehat, ihre unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland beendet und in einen ausländischen Staat verzieht. In diesem Fall wird unterstellt, der Steuerpflichtige habe seine Beteiligung zum gemeinen Wert (Verkehrswert) veräußert. Im Steuerbescheid für das Wegzugsjahr ist eine Einkommensteuer auf 60% des fiktiven Veräußerungsgewinns festzusetzen (Steuerfestsetzung).

Für Wegzüge vor dem 1.1.2022 wurde von Gesetzes wegen (§ 6 AStG a.F.) bei einem Wegzug in einen EU- oder EWR-Staat diese im Bescheid festgesetzte Steuer unter bestimmten Voraussetzungen dauerhaft, zinslos und ohne Sicherheitsleistung gestundet (sog. Ewigkeitsstundung). Bei einem Wegzug in die Schweiz galt dies nach dem Gesetzeswortlaut nicht, allenfalls eine Ratenzahlung kam in Betracht.  

Herr Wächtler als Kläger im Wächtler-Verfahren war 2011 in die Schweiz verzogen und wandte sich vor dem FG Baden-Württemberg (FG) gegen die Festsetzung der Wegzugssteuer. Das FG legte daraufhin dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vor. Es besteht insoweit die Besonderheit, dass die EU-Staaten mit der Schweiz das sog. Freizügigkeitsabkommen (FZA) geschlossen haben, welches ähnliche Freizügigkeitsrechte gewährt wie die EU-Grundfreiheiten. Der EuGH ließ in seiner Entscheidung klar erkennen – so jedenfalls das Verständnis von nahezu allen Experten –, dass bei Wegzügen in die Schweiz aufgrund des FZA ebenfalls eine dauerhafte, zinslose Stundung zu gewähren sei, diese wegen fehlender Vollstreckungshilfe aber von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden könne (siehe Blogbeitrag). In seiner Anschluss-Entscheidung kam das FG sodann gar zu dem Ergebnis, dass schon eine Festsetzung der Wegzugsteuer unzulässig sei (siehe Blogbeitrag).

Entscheidung des BFH

In der am 11.1.2024 veröffentlichten Entscheidung über die Revision gegen das Urteil des FG hat der BFH die gegen die Steuerfestsetzung gerichtete Klage des Herrn Wächtler zwar abgewiesen. Er hat aber – in durchaus erstaunlicher Deutlichkeit – sein Verständnis der o.g. EuGH-Entscheidung zum Ausdruck gebracht und hält für den Wegzug von Herrn Wächtler eine dauerhafte und zinslose Stundung der Wegzugssteuer bis zum Zeitpunkt einer tatsächlichen Veräußerung der Anteile für geboten. Insoweit stellt er sich auch ausdrücklich gegen eine anderslautende Verlautbarung der Finanzverwaltung (BMF v. 13.11.2019, BStBl. I 2019, 1212).

Folgerungen

Im Grundsatz haben Entscheidungen des BFH nur unmittelbare rechtliche Bedeutung für den jeweils entschiedenen Einzelfall. Regelmäßig werden die Erkenntnisse des obersten Steuergerichts aber auf Parallelfälle übertragen, soweit die Finanzverwaltung dies nicht durch einen sog. Nichtanwendungserlass unterbinden sollte. Ungeachtet dessen wird man aus der Entscheidung folgende Schlüsse ziehen können:

Für Wegzüge vor dem 1.1.2022 ist bei Wegzügen in die Schweiz bis zu einer tatsächlichen Veräußerung der Anteile eine dauerhafte und zinslose Stundung der Wegzugsteuer zu gewähren. Selbst wenn nach einem Wegzug in die Schweiz in der Vergangenheit die Steuer schon gezahlt wurde, ist die Steuer – auch hierauf geht der BFH ein – rückwirkend zu stunden (und zwangsläufig der gezahlte Betrag zu erstatten). Das Finanzamt kann die Stundung aber von einer Sicherheitsleistung abhängig machen, was in der Praxis Schwierigkeiten bereiten wird. Für Wegzüge vor dem 1.1.2022 in einen EU-/EWR-Staat wird nach dem Gesetz ausnahmsweise dann keine dauerhafte Stundung gewährt, wenn z.B. der Wegzügler im Ausland nicht einer der deutschen Einkommensteuer vergleichbaren Steuer unterliegt. Insoweit kann die EuGH- wie BFH-Entscheidung nur so verstanden werden, dass auch in diesen Fällen eine dauerhafte, zinslose Stundung europarechtlich geboten ist. 

Bei Wegzügen nach dem 31.12.2021 sieht die reformierte Wegzugsbesteuerung bei dauerhaften Wegzügen unabhängig vom Zielstaat nur eine Ratenzahlung über sieben Jahre vor, für die aber in der Regel eine Sicherheitsleistung verlangt werden kann. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der EuGH oder BFH zur neuen Rechtslage bei Wegzügen in einen EU-/EWR-Staat bzw. die Schweiz anders entscheiden sollte. Denn weiterhin wird der ins Ausland Wegziehende steuerrechtlich schlechter behandelt als derjenige, der dauerhaft von Hamburg nach München umzieht. Insoweit ist der Gesetzgeber aufgefordert, die alte Rechtslage wieder zu reaktivieren, d.h. die dauerhafte, zinslose Stundung für Wegzüge in EU-/EWR-Staaten wieder einzuführen und diese auch auf die Schweiz zu erstrecken. Dabei darf nur für Wegzüge in die Schweiz eine Sicherheit verlangt werden. Bis zu einer Gesetzesänderung wird der Steuerpflichtige, sollte die Finanzverwaltung nicht schon im Erlasswege einlenken, seine Rechte ggf. im Wege der einstweiligen Anordnung kombiniert mit Verpflichtungseinspruch bzw. -klage durchsetzen müssen.