Das Ende der deutschen Anti-Treaty-Shopping-Regelung?!

05.07.2018

Kürzlich hat der EuGH in der Sache Deister Holding u.a. (C-504/16, C-613/16, dazu Christian Süß im Blog) die EU-Rechtswidrigkeit der deutschen Anti-Treaty-Shopping-Regelung ( § 50d Abs. 3 EStG aF) festgestellt. Das Bundesfinanzministerium reagierte kurzer Hand und veröffentlichte ein BMF-Schreiben (BMF v. 4.4.2018 - IV B 3 - S 2411/07/10016-14). Darin wurde die Nichtanwendung der Anti-Treaty-Shopping-Regelung des § 50d Abs. 3 EStG aF für alle noch offenen Fälle angeordnet.

 

Das BMF-Schreiben erstreckt sich nur auf Entlastungsanträge gemäß § 43b EStG (EU-Dividenden). Dem Vernehmen nach soll dies auch auf Entlastungsansprüche gemäß § 50g EStG analog angewandt werden. Für andere Entlastungsansprüche (zB § 44a Abs. 9 EStG oder DBA) soll § 50d Abs. 3 EStG aF (anwendbar bis VZ 2011) offenbar weiterhin gelten. Da der EuGH aber einen generellen EU-Rechtsverstoß festgestellt hatte, ist diese Begrenzung unzulässig. Anfechtungen dürften entsprechend erfolgsversprechend sein. Jedoch geht es insoweit nur um sog. Altfälle, in denen über ein Entlastungsbegehren noch nicht entschieden wurde.

 

Mit dem BeitrRLUmsG hatte der Gesetzgeber ab VZ 2012 den § 50d Abs. 3 EStG entschärft. Das FG Köln hatte dennoch Zweifel an der Vereinbarkeit mit EU-Recht und legte dem EuGH mit Beschluss vom 17.5.2017 (2 K 773/16) auch die aktuelle Fassung zur Überprüfung vor.

Der Fall

Eine niederländische BV (entspricht einer GmbH) war zu 93% an einer deutschen GmbH beteiligt und erzielte im VZ 2013 eine Dividendenausschüttung. Anteilseignerin war wiederum eine deutsche GmbH (sog. Mäander-Struktur), die im Konzern sämtliche Auslandsbeteiligungen einer Sparte hielt. Die personell ausgestattete BV fungierte als Holding- und Finanzierungsgesellschaft. Geringfügig betätigte sie sich auch als Einkaufsgesellschaft. Außerdem verfügte die BV über Räumlichkeiten und die notwendigen Kommunikationsmittel. Das BZSt versagte dennoch eine Quellensteuerentlastung unter Berufung auf die deutsche Anti-Treaty-Shopping-Regelung (§ 50d Abs. 3 EStG).

Anwendungsbereich der deutschen Anti-Treaty-Shopping-Regelung

Nach aktueller Rechtslage wird eine vollständige oder teilweise Steuererstattung gemäß § 50d Abs. 3 EStG insoweit (Aufteilungsklausel) untersagt, als an einer ausländischen Gesellschaft nicht begünstigungsfähige Personen beteiligt sind, die Gesellschaft selbst nicht wirtschaftlich tätig ist, und:

  • für die Zwischenschaltung wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder
  • die ausländische Gesellschaft nicht mit einem ange-messen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.

Dabei ist nach § 50d Abs. 3 Satz 2 EStG ausschließlich und isoliert auf die Merkmale der betreffenden Auslandsgesellschaft abzustellen; konzernbezogene Merkmale bleiben außen vor.

 

Entscheidung des EuGH

 

Die Entscheidung des Gerichtshofs liest sich nahezu identisch, wie sein Urteil in der eingangs erwähnten Rechtssache Deister Holding (zu § 50d Abs. 3 EStG a.F.). Das bedeutet: Auch die aktuelle Fassung des § 50d Abs. 3 EStG verstößt gegen Sekundär- (Mutter-Tochter-Richtlinie – MTR) und Primärrecht. Letzteres ist besonders entscheidend, weil die Urteilsgründe damit nicht nur für Entlastungsansprüche nach § 43b EStG gelten, sondern jedwede Entlastungsansprüche umfassen, die in den Schutzbereich der konvergenten Grundfreiheiten fallen.

 

Die MTR untersagt Quellensteuern auf EU-Dividenden. Hiervon darf nach Art. 1 Abs. 2 MTR nur abgewichen werden, wenn Steuerhinterziehung und Missbrauch vorliegt. Darauf zielt § 50d Abs. 3 EStG aber nicht ab. Die Norm unterstellt vielmehr typisierend den Missbrauchsverdacht, ohne dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eines Gegenbeweises einzuräumen. Die Prüfung einer missbräuchlichen Gestaltung darf auch nicht auf allgemeine Kriterien gestützt werden, sondern erfordert stets eine Einzelfallprüfung. In dieser sind dann sämtliche Umstände zu berücksichtigen (also auch Konzernmerkmale). Den Missbrauchsvorwurf hat die Finanzverwaltung durch Nachweise zu belegen. Hieran scheitert es zumindest, wenn die betreffende Gesellschaft einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht. Umfasst ist danach auch die Vermögensverwaltung. Mit anderen Worten kann eine vermögensverwaltende Gesellschaft keine missbräuchliche Gestaltung sein.

 

Dieses Verständnis überträgt der EuGH dann uneingeschränkt auf Ebene der Grundfreiheiten. Mithin verstößt die deutsche Anti-Treaty-Shopping-Regelung (§ 50d Abs. 3 EStG) gegen die Vorgaben der MTR und gegen die Grundfreiheiten (Niederlassungsfreiheit).

Merkposten

Folgende Aussagen in den Entscheidungsgründen sind besonders bemerkenswert:

  • Der EuGH spricht einer typisierenden Vorschrift den Charakter einer Missbrauchsabwehrnorm ab.
  • Die anfängliche Missbrauchsvermutung hat die Finanzverwaltung im Einzelfall nachzuweisen; eine Stand-Alone-Betrachtung ist unzulässig.
  • Der Steuerpflichtige muss in der Lage sein, selbst wirtschaftliche Motive vorzubringen.
  • Auch die Vermögensverwaltung stellt eine wirtschaftliche Tätigkeit dar und widerlegt einen Missbrauchstatverdacht.

Zukunft von Anti-Treaty-Shopping-Regelungen – Wo geht die Reise hin?

Es steht somit fest, dass auch die aktuelle Anti-Treaty-Shopping-Regelung gegen EU-Recht verstößt. Damit ist die Anwendung von § 50d Abs. 3 EStG in allen noch nicht bestandskräftigen Verfahren unzulässig, wenn sich die Quellensteuerentlastung entweder auf Sekundärrecht (§ 43b oder § 50g EStG) oder Primärrecht (zB § 44a EStG oder bestimmte DBA-Konstellationen) stützt.

 

Ebenfalls reichen die Ausführungen des BMF-Schreibens v. 4.4.2018 (IV B 3 - S 2411/07/10016-14) nicht dafür aus, einen unionsrechtskonformen Zustand herzustellen. Die geänderte Auslegungslinie zur wirtschaftlichen Tätigkeit, Geschäftsbetrieb oder der nunmehr auch zugelassenen Konzernbetrachtung in Bezug auf § 50d Abs. 3 S. 2 EStG sind zu restriktiv. Und – das ist zentral –  räumlich und sachlich zu eng gefasst.

 

Der Gesetzgeber wird nicht umhin kommen, die Anti-Treaty-Shopping-Regelung (§ 50d Abs. 3 EStG) vollständig zu überarbeiten. Darauf wird man sich einstellen dürfen. Spannend bleibt lediglich die Frage nach dem „wie“. Eine schlichte Orientierung an der Formulierung der ATAD (RL 2016/1164) oder des neugefassten Art. 1 Abs. 2 MTR (RL 2015/121) dürfte einer Überprüfung durch den EuGH nicht standhalten. Dafür spricht jedenfalls die jüngste Rechtsprechungslinie. Dem europäischen Missbrauchsbegriff wurden sehr enge Grenzen gesetzt.

 

Abschließend lässt sich in jüngster Zeit eine zunehmende Ausdehnung des unionsrechtlichen Schutzbereiches für die Steuerpflichtigen konstatieren. Das Argument der Missbrauchsabwehr oder Steuerhinterziehung lässt der Gerichthofs kaum zu. Dies gilt vorliegend für den Bereich des Anti-Treaty- oder Directive-Shopping, aber überraschenderweise auch im Bereich der Verrechnungspreise (dazu Kluge im Blog). Dem Steuerpflichtigen muss stets die Möglichkeit gegeben werden, wirtschaftliche Gründe für eine gewählte Gestaltung vorzubringen.

 

In Zukunft wird sich in der Praxis der Streitpunkt auf die Frage verlagern, welche wirtschaftlichen Gründe einen erzielten Steuervorteil rechtfertigen können.