Wegzug in die Schweiz: Wegzugsbesteuerung kann gestundet werden
Zieht ein Steuerpflichtiger in die Schweiz und übt dort bereits eine Erwerbstätigkeit aus, steht das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) zwischen Deutschland und der Schweiz einer Wegzugsbesteuerung ohne Stundungsmöglichkeit entgegen. Zu diesem Ergebnis kommt der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner mit Spannung erwarteten Entscheidung in der Sache Wächtler (Urteil vom 26. Februar 2019, C-581/17 – Wächtler).
Vorabentscheidungsersuchen des FG Baden-Württemberg
Die Frage der dauerhaften Stundung der Wegzugsbesteuerung im Verhältnis zur Schweiz ist Gegenstand des Klageverfahrens Wächtler vor dem FG Baden-Württemberg.
Der Kläger ist ein deutscher Staatsangehöriger, der seit 2007 als Gesellschafter-Geschäftsführer zu 50% an einer in der Schweiz ansässigen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, die IT-Beratungsleistungen erbringt. Im Streitjahr 2011 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz vom Inland in die Schweiz. Das zuständige Finanzamt setzte daraufhin Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 AStG) fest. Hiermit werden bei dem Wegzug des Anteilsinhabers die stillen Reserven in den Kapitalgesellschaftsanteilen so besteuert, als habe der Wegziehende die Anteile bei Wegzug veräußert.
Die vom Kläger begehrte dauerhafte Steuerstundung nach § 6 Abs. 5 AStG verwehrte das Finanzamt mit dem Hinweis, dass diese nur bei einem Wegzug in einen EU/EWR-Mitgliedstaat möglich sei. Im Verhältnis zur Schweiz besteht jedoch die Besonderheit, dass diese mit der EU das FZA geschlossen hat, wonach u.a. die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der EU und der Schweiz gewährleistet werden soll. Aus diesem Grund war bereits seit Längerem gefordert worden, die Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG auch im Verhältnis zur Schweiz zu gewähren, wegen der fehlenden Beitreibungshilfe der Schweiz ggf. unter Verlangen von Sicherheiten (stv. Häck, IStR 2011, 797, 800).
Das FG Baden-Württemberg setzte das Klageverfahren aus ( Beschluss vom 14. Juni 2017, Az.: 2 K 2413/15). Es legte dem EuGH die Frage vor, ob das FZA einer Wegzugsbesteuerung ohne Stundungsmöglichkeit entgegenstehe.
Wegzugsbesteuerung mit Stundungsmöglichkeit? – Entscheidung des EuGH
Der EuGH bejaht im Ergebnis diese Frage und führt in seiner Entscheidung im einzelnen aus:
Als deutscher Staatsangehöriger, der einer selbständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz nachgeht, könne sich Herr Wächtler als „Selbständiger“ im Sinne des FZA auf dessen Schutz berufen. Weil Herr Wächtler sich für die Ausübung seiner selbständigen Tätigkeit in der Schweiz niedergelassen habe, sei das FZA anwendbar.
Gegenüber seinem Herkunftsstaat könne er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen. Denn eine Wegzugsbesteuerung bei Wohnsitzverlegung in die Schweiz stelle eine Ungleichbehandlung gegenüber dem Inlandsfall dar, bei dem die Steuer erst dann erhoben wurde, wenn die stillen Reserven in den Anteilen tatsächlich realisiert wurden.
Gleichwohl könne eine solche Ungleichbehandlung dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genüge. Zwar sei die Steuerfestsetzung im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung geeignet, um das Ziel zu erreichen, dass die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse gewahrt bleibe. Dieses Ziel rechtfertige aber nicht, dass eine Stundung der Steuer unmöglich sei. Denn Deutschland verzichte auch bei einer Stundung nicht auf seine Besteuerungsansprüche.
Auch das Ziel einer wirksamen steuerlichen Kontrolle rechtfertige die fehlende Stundungsmöglichkeit nicht, da nach dem DBA Deutschland/Schweiz der Austausch von Steuerinformationen gewährleistet sei. Schließlich sei es auch unter Berufung auf das Ziel der Vermeidung von Steuermindereinnahmen unverhältnismäßig, die Steuer sofort zu erheben. Denn auch im Hinblick auf die fehlende Beitreibungshilfe der Schweiz stelle ein die Stundung flankierendes Verlangen von Sicherheiten ein milderes Mittel dar.
Die Stundung der Wegzugsbesteuerung nicht zu gewähren, stelle vor diesem Hintergrund eine ungerechtfertigte Beschränkung des vom FZA vorgesehenen Niederlassungsrechts dar. Dies gelte ungeachtet der Möglichkeit nach § 6 Abs. 4 AStG, die Steuer in Teilbeträgen zu entrichten, da hierdurch der Liquiditätsnachteil des Steuerpflichtigen nicht beseitigt werde.
Urteil in Wegzugsfällen noch nicht zu verallgemeinern
Für den Fall Wächtler hat der EuGH bestätigt, dass über das FZA eine den unionsrechtlichen Grundfreiheiten vergleichbare Schutzwirkung gewährt wird. In Wegzugsfällen darf die Entscheidung jedoch nicht vorschnell verallgemeinert werden. Denn in der Entscheidung in der Rs. Picart (EuGH v. 15.3.2018 – C-355/16) hatte der EuGH den Wegziehenden nicht in den persönlichen Anwendungsbereich des FZA (kein „Selbständiger“) einbezogen.
Nach derzeitiger Rechtslage ist die Finanzverwaltung angehalten, in den der Sache Wächtler vergleichbaren Fällen eine dauerhafte Stundung der Wegzugsbesteuerung auch bei Wegzügen in die Schweiz zu gewähren. Verhältnismäßig ist es im Regelfall aber, wenn die Finanzbehörde die Stundung von einer Sicherheitsleistung abhängig macht, solange die Schweiz keine Beitreibungshilfe gewährt. Interessant ist, dass der EuGH die in seiner Entscheidung in der Rs. National Grid Indus angesprochene Möglichkeit der Verzinsung der Steuer im Stundungszeitraum nicht anspricht. Dieser Gedanke würde die Stundung ohnehin in gewisser Weise ad absurdum führen und sollte nicht weiter in Erwägung gezogen werden.
Diskussion um dauerhafte Stundung beendet
Besondere Bedeutung hat der Hinweis des EuGH, dass trotz der Möglichkeit der gestreckten Entrichtung der Wegzugsbesteuerung in Teilbeträgen über höchstens fünf Jahre nach § 6 Abs. 4 AStG, im Verhältnis zur Schweiz eine dauerhafte Stundung der Steuer angezeigt ist. In den jüngeren Entscheidungen v.a. in den Rs. DMC und Verder Labtec hatte der EuGH die Streckung der Steuerzahlung über fünf Jahre i.S.v. §§ 4g, 36 Abs. 5 EStG als verhältnismäßig angesehen. Art. 5 der ATAD sieht im Anschluss daran bei der Entstrickung aufgrund des Wegzugs von Körperschaftsteuersubjekten nur eine Streckung der Besteuerung über fünf Jahre vor. Jedenfalls dürfte die Entscheidung in der Rs. Wächtler für den Wegzug natürlicher Personen im EU-/EWR-Raum die Diskussion darüber beenden, ob der Gesetzgeber berechtigt sei, in § 6 Abs. 5 AStG von der dauerhaften Stundung auf eine lediglich fünfjährige Zahlungsstreckung „umzustellen“. Nach Wächtler wäre dies unzulässig.
Wegzüge in andere Drittstaaten und Sonderfall BREXIT
Der Entscheidung des EuGH lassen sich leider keine weiteren Hinweise entnehmen, ob und inwieweit Wegzüge in Drittstaaten unter der Kapitalverkehrsfreiheit steuerrechtlich zu beurteilen sind. Hierzu hätte der EuGH ggf. Stellung beziehen müssen, hätte er das über das FZA vermittelte Niederlassungsrecht nicht zugunsten des Steuerpflichtigen aktiviert.
Bedeutung kann die Entscheidung aber künftig im Verhältnis zum Vereinigten Königreich erlangen, sollte mit diesem im Anschluss an den bevorstehenden BREXIT ein Abkommen nach dem Vorbild des FZA vereinbart werden. Dann könnten die Entscheidungsgründe ggf. zu übertragen sein.
Gesetzgeber in Sachen Wegzugsbesteuerung unter Zugzwang
Die Entscheidung des EuGH in der Rs. Wächtler bringt den Gesetzgeber unter Zugzwang. Der Gesetzgeber sollte § 6 Abs. 5 AStG auf Sachverhalte im Verhältnis zur Schweiz ausdehnen und dabei keine weiteren Einschränkungen auf „Selbständige“ i.S.d. FZA vornehmen. Dem steuerlichen Laien, der nicht als „Selbständiger“ qualifiziert, wäre eine solche Unterscheidung nicht vermittelbar. Vielleicht nimmt der Gesetzgeber den Handlungsbedarf zum Anlass, auch Drittstaatenfälle in den Blick zu nehmen und diese einer sowohl für den Fiskus als auch die Steuerpflichtigen, v.a. die zahlreichen Gesellschafter inländischer Familienunternehmen, verträglichen (Stundungs-)Lösung zuzuführen. Vorschläge hierzu liegen bereits vor (s. zB Kudert/Hagemann/Kahlenberg in Stiftung Familienunternehmen (Hrsg.), Die Internationalisierung der Unternehmerfamilie – Reformvorschläge für die Wegzugsbesteuerung, 2017).