Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in zwei Entscheidungen (Urteile vom 28.6.2022, I R 24/21, und vom 1.6.2022, I R 32/19) zum Begriff des Grenzgängers i.S.d. Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz Stellung bezogen. Konkret befasste sich der BFH mit geringfügigen Beschäftigungen im grenzüberschreitenden Verhältnis sowie großen Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort.
1. Hintergrund
Grundsätzlich wird im zwischenstaatlichen Verhältnis zur Schweiz das Besteuerungsrecht an den Einkünften aus unselbständiger Erwerbstätigkeit dem Staat zugewiesen, in dem der Erwerbstätige seine Arbeit ausübt (Art. 15 DBA-Schweiz). Etwas anderes gilt nach Art. 15a DBA-Schweiz für sogenannte Grenzgänger. In diesen Fällen erhält der Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers das Besteuerungsrecht an dessen Löhnen, Gehältern und ähnlichen Vergütungen. Dem Tätigkeitsstaat verbleibt ein Quellenbesteuerungsrecht von maximal 4,5%.
Als Grenzgänger gelten gem. Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz nur jene unselbständig Erwerbstätige, die regelmäßig nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz im Inland zurückkehren. Eine regelmäßige Rückkehr ist dann gegeben, falls der Arbeitnehmer bei ganzjähriger Beschäftigung nicht an mehr als 60 Tagen im Jahr aus beruflichen Gründen an seinem Arbeitsort verbleibt (Nichtrückkehrtage).
2. Nichtrückkehrtage bei geringfügiger Beschäftigung
Im Urteil vom 28.6.2022 (I R 24/21) befasste sich der BFH mit dem Fall eines Steuerpflichtigen, der in Deutschland ansässig war und im Streitjahr an monatlich drei Arbeitstagen als Prokurist für eine von ihm gegründete schweizerische AG tätig wurde. Im Streitjahr kehrte der Steuerpflichtige nach eigener Auskunft an 20 Kalendertagen nicht an seinen Wohnort zurück, wobei nur Nachweise über zwei Tage erbracht wurden. Der Steuerpflichtige war der Auffassung, dass die Einkünfte nach dem Grundsatz des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz zu behandeln und nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz in Deutschland freizustellen seien. Das Finanzamt hielt dem entgegen, dass der Steuerpflichtige als Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz zu behandeln sei und Deutschland damit das Besteuerungsrecht an den Einkünften habe.
Der BFH gab dem Finanzamt Recht und bestätigte die vorrangige Grenzgängereigenschaft des Steuerpflichtigen i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz. Folglich erhält Deutschland das Besteuerungsrecht an den Arbeitseinkünften des Steuerpflichtigen. Nach Nr. II.4. des Verhandlungsprotokolls zum Änderungsprotokoll des DBA-Schweiz vom 18.12.1991 sei bei Teilzeitbeschäftigten zwar die Anzahl unschädlicher Nichtrückkehrtage zu reduzieren. Angesichts der zwei nachgewiesenen Nichtrückkehrtage wurde im Streitfall aber selbst die gekürzte Anzahl nicht vom Steuerpflichtigen ausgeschöpft.
Nach Auffassung des BFH komme es auch nicht darauf an, an wie vielen Tagen der Steuerpflichtige zu seinem Arbeitsort in der Schweiz verkehrt, da es allein auf die Rückkehr zum Wohnort ankomme. Die „Regelmäßigkeit“ i.S.d. Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz enthalte kein Gebot über eine Mindestanzahl an Grenzüberquerungen pro Woche oder pro Monat. Maßgeblich sei, so der BFH, allein die Gesamtzahl der Tätigkeitstage am Arbeitsort. Die „regelmäßige“ Rückkehr sei daher auf diese Tätigkeitstage zu beziehen.
Nach § 7 der Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen Deutschland und der Schweiz vom 20.12.2010 (KonsVerCHEV) ist eine regelmäßige Rückkehr im Fall geringfügiger Beschäftigungen nur anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer an mindestens einem Tag pro Woche oder fünf Tagen pro Monat zwischen Wohn- und Arbeitsort verkehrt. Diese Vorgaben verstießen laut BFH gegen den verfassungsrechtlichen Vorrang des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG.
3. Rückkehr an den Wohnort bei großer Entfernung zum Arbeitsort
Im zugrundeliegenden Sachverhalt des BFH-Urteils vom 1.6.2022 (I R 32/19) war der in Deutschland ansässige Steuerpflichtige als Arzt in der Schweiz tätig. Während seiner 24-stündigen Arbeitsaufenthalte wechselten sich regulärer Dienst und Rufbereitschaft ab. Zwischen dem Wohnort in Deutschland und dem Arbeitsort in der Schweiz lag eine Distanz von 200 km. Nach Auffassung des Steuerpflichtigen sei eine tägliche Rückkehr angesichts dieser Entfernung nicht zumutbar gewesen und daher die Grenzgängereigenschaft zu verneinen. Die streitgegenständlichen Arbeitseinkünfte seien in Deutschland freizustellen.
Der BFH widersprach dem Steuerpflichtigen. Der Begriff des Grenzgängers sei unabhängig von örtlichen Voraussetzungen oder Grenzzonen aufzufassen. Die Eigenschaften eines Grenzgängers würden laut BFH durch die regelmäßige Rückkehr einer Person an ihren Wohnort sowie die Anzahl der Nichtrückkehrtage definiert. Der ehemalige Ortsbezug des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 sei bewusst in Art. 15a Abs. 2 DBA Schweiz 1992 aufgegeben worden (vgl. aber Art. 15 Abs. 6 Nr. 1 DBA-Österreich oder Art. 13 Abs. 5 Buchst. b DBA-Frankreich). Zudem sei die Zumutbarkeit einer Rückkehr an den Wohnort aufgrund der Entfernung nur für die Bestimmung der Nichtrückkehrtage bedeutsam. Da der Steuerpflichtige ungeachtet der Entfernung regelmäßig an seinen Wohnort zurückkehrte, handele es sich um einen Grenzgänger.
Daneben erteilt der BFH der Auffassung der Vorinstanz eine Absage, der reguläre Dienst des Arztes und seine Rufbereitschaft seien getrennt zu betrachten. Allein die Möglichkeit, während der Rufbereitschaft an den Wohnort zurückzukehren, dieses aber zu unterlassen, begründe nicht die Annahme von Nichtrückkehrtagen. Da somit kein einziger Nichtrückkehrtag ersichtlich ist, stehe der Grenzgängereigenschaft des Steuerpflichtigen nichts entgegen.
Abschließend äußert sich der BFH teilweise inhaltsgleich gegenüber seinem Urteil vom 28.6.2022 (I R 24/21) zu Nichtrückkehrtagen.
4. Hinweis
Die Entscheidungen des BFH sorgen für Klarheit im steuerlichen Umgang mit Grenzgängern, die sich zwischen Deutschland und der Schweiz bewegen. Insgesamt wird es für Steuerpflichtige komplizierter, den aus deutscher Sicht regelmäßig unliebsamen Grenzgängerstatus zu verlieren, auch vor dem Hintergrund der jüngsten Konsultationsvereinbarung zwischen beiden Staaten vom 15./18.7.2022, dass Homeoffice-Tage von den Nichtrückkehrtagen auszunehmen seien. Letzteres kann gleichwohl vom BFH anders beurteilt werden, da Konsultationsvereinbarungen vor Gericht nicht bindend sind.