Ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch für Befreiungsnormen anwendbar?
Die Rechtsprechung der vergangenen Jahre wendet die wirtschaftliche Betrachtungsweise in zunehmendem Maß bei der Auslegung der grunderwerbsteuerlichen Ergänzungstatbestände (§ 1 Abs. 2a, Abs. 3 und Abs. 3a GrEStG) an. Folge hiervon ist, dass immer mehr Sachverhalte der Grunderwerbsteuer unterworfen werden. Aus Sicht der Steuerpflichtigen drängt sich vor diesem Hintergrund die Folgefrage auf, ob die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch zugunsten des Steuerpflichtigen anzuwenden ist, wenn es darum geht, ob die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung erfüllt sind.
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise in § 1 Abs. 2a, Abs. 3 und Abs. 3a GrEStG
Die grunderwerbsteuerlichen Ergänzungstatbestände § 1 Abs. 2a, Abs. 3 und Abs. 3a GrEStG fingieren steuerbare Grundstückserwerbe, wenn Anteile an grundbesitzenden Gesellschaften übertragen werden. Die von den Ergänzungstatbeständen erfassten Änderungen im Bestand der Gesellschafter können unmittelbar oder mittelbar erfolgen. Das Grunderwerbsteuerrecht verfolgt dabei im Grundsatz eine zivilrechtliche Betrachtung. Da es zivilrechtlich keine mittelbaren Übertragungen gibt, wendet der BFH zur Auslegung der „mittelbaren Änderung“ eine wirtschaftliche Betrachtungsweise unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Ergänzungstatbestände an.
Der BFH hat in seiner Rechtsprechung zwei unterschiedliche Fallgruppen von mittelbaren Übertragungsvorgängen entwickelt: Mittelbare Übertragungen können einerseits durch einen Wechsel im Gesellschafterbestand des an der grundbesitzenden Gesellschaft beteiligten Gesellschafters eintreten (Fallgruppe 1: Mittelbare Anteilsübertragung durch Gesellschafterwechsel). Sie liegen also vor, wenn sich nicht die Beteiligungsverhältnisse an der grundbesitzenden Gesellschaft selbst, sondern an dem Gesellschafter der grundstücksbesitzenden Gesellschaft ändern.
Mittelbare Anteilsübertragung können sich allerdings seit neuerer Rechtsprechung auch durch den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums der (unmittelbaren) Anteile an der grundbesitzenden Gesellschaft ergeben (Fallgruppe 2: Mittelbare Anteilsübertragung durch Übergang des wirtschaftlichen Eigentums). Eine derartige Änderung tritt ein, wenn eine Beteiligung aufgrund schuldrechtlicher Bindungen des an der Gesellschaft unmittelbar beteiligten Gesellschafters aus wirtschaftlicher Perspektive einem Dritten zuzurechnen ist. Ein typisches Beispiel sind hierbei Treuhandstrukturen. Im Grundsatz sind aber alle Fallsituationen betroffen, in denen das wirtschaftliche Eigentum an einem Anteil gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht dem zivilrechtlichen Eigentümer, sondern dem wirtschaftlichen Eigentümer zuzurechnen ist.
Während der BFH die mittelbare Anteilsübertragung durch Übergang des wirtschaftlichen Eigentums im Kontext des § 1 Abs. 2a GrEStG bereits seit einigen Jahren befürwortet, sprach er sich erst kürzlich explizit für die Berücksichtigung des wirtschaftlichen Eigentums im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3 GrEStG aus. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise führt dazu, dass immer mehr Sachverhalte grunderwerbsteuerbar sind. Ungeklärt ist jedoch, ob diese wirtschaftliche Betrachtungsweise auch anzuwenden ist, wenn es darum geht, ob die Voraussetzungen einer Grunderwerbsteuerbefreiung erfüllt sind.
Wirtschaftliche Betrachtungsweise in den Befreiungsnormen §§ 5, 6 GrEStG
Die §§ 5 und 6 GrEStG sehen u.a. Steuerbefreiungen für die Übertragung von Grundbesitz zwischen einer Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern vor.
Die Rechtsprechung des BFH zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei den Ergänzungstatbeständen kann nicht eins zu eins auf die Befreiungen übertragen werden. Denn anders als in den Ergänzungstatbestände wird in §§ 5, 6 GrEStG dem Wortlaut nach nicht auf „mittelbare Beteiligungen“ abgestellt. Allerdings hat die Rechtsprechung die §§ 5, 6 GrEStG in der Vergangenheit vielfach nach Sinn und Zweck weiter ausgelegt oder reduziert.
Die herrschende Meinung lehnte eine Berücksichtigung des wirtschaftlichen Eigentums bei der Anwendung der Steuerbefreiungen nach §§ 5, 6 GrEStG bisher ab. Das FG Hamburg hat jedoch in einem Urteil vom 28. Dezember 2016 zurecht die Gewährung der Steuerbefreiung bei Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bejaht. Das FG argumentiert in diesem Urteil, dass es für Zwecke des § 6 GrEStG darauf ankommt, wem das Vermögen nach Maßgabe des GrEStG zuzuordnen ist. Dies sei nicht zwingend der zivilrechtlich beteiligte Gesellschafter, auf den der Wortlaut der §§ 5, 6 GrEStG abstellt. Vielmehr rechnet der BFH den Gesellschaftsanteil wie bereits dargestellt jedenfalls im Anwendungsbereich der Ergänzungstatbestände (auch) dem wirtschaftlichen Eigentümer zu. Das FG Hamburg vergleicht die Stellung des wirtschaftlichen Eigentümers mit der des mittelbar über eine Personengesellschaft Beteiligten. Diesem wird ebenfalls die unmittelbare Beteiligung der zwischengeschalteten Gesamthand an der grundbesitzenden Gesellschaft zugerechnet.
Das FG Hamburg widerspricht damit zwar der früheren Rechtsprechung des BFH und der Literatur, die zwingend eine sachenrechtliche Beteiligung an der Gesamthand verlangten. Allerdings wurde in der Vergangenheit im Grunderwerbsteuerrecht insgesamt maßgebend auf das Zivilrecht abgestellt. Da die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der jüngeren Rechtsprechung einen zusehends weiteren Anwendungsbereich bei den Ergänzungstatbeständen einnimmt, müssen auch die Befreiungsnormen entsprechend ausgelegt werden.
Die Rechtsprechung des FG Hamburg dürfte insbesondere für Treuhandvereinbarungen über unmittelbare Anteile an grundbesitzenden Personengesellschaften relevant sein. In solchen Strukturen wären die Anteile sowohl dem Treuhänder als zivilrechtlichem Gesellschafter (Gesamthänder) als auch dem Treugeber als wirtschaftlichem Eigentümer zuzurechnen. Dies könnte beispielsweise gezielt genutzt werden, wenn Anteile innerhalb der Nachbehaltensfrist des § 5 oder § 6 Abs. 3 GrEStG übertragen werden sollen. Außerdem wird die Beendigung des Treuhandverhältnisses oder der Treuhänderwechsel bezogen auf Personengesellschaftsanteile regelmäßig durch § 6 GrEStG befreit sein. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise könnte damit den Anwendungsbereich der §§ 5, 6 GrEStG deutlich ausweiten.
Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Konzernklausel (§ 6a GrEStG)
Die grunderwerbsteuerliche Konzernklausel sieht vor, dass Umstrukturierungsvorgänge in einem Unternehmensverbund unter bestimmten Voraussetzungen von der Grunderwerbsteuer freigestellt werden. Für die Anwendung der grunderwerbsteuerlichen Konzernklausel kommt es u.a. darauf an, dass das sog. herrschende Unternehmen unmittelbar oder mittelbar an sog. abhängigen Gesellschaften beteiligt ist (§ 6a Satz 4 GrEStG). Da somit auch die Konzernklausel auf eine „mittelbare“ Beteiligung als Tatbestandsmerkmal abstellt, sollte die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch in § 6a GrEStG zwingend korrespondierend vorzunehmen sein.
Eine entsprechende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei der grunderwerbsteuerlichen Konzernklausel würde auch im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Norm stehen. Denn § 6a GrEStG soll konzerninterne Umstrukturierungen erleichtern und einer übermäßigen Besteuerung von Umstrukturierungsmaßnahmen entgegenwirken. Die Ausweitung der Ergänzungstatbestände durch die wirtschaftliche Betrachtungsweise muss sich daher auch in § 6a GrEStG wiederfinden.
Die Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei der Konzernklausel birgt sowohl Chancen als auch Risiken für den Steuerpflichtigen. Sie ist vorteilhaft, wenn die Steuerbefreiung nur aufgrund der wirtschaftlichen Betrachtungsweise gewährt wird oder eine gewährte Steuerbefreiung nachträglich nicht versagt wird, weil dies aus Sicht der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht gerechtfertigt ist. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise kann allerdings auch nachteilig sein, wenn eine relevante Vor- oder Nachbehaltensfrist bei Zugrundelegung einer wirtschaftlichen Betrachtung nicht eingehalten wird. So oder so verkompliziert sich die Auslegung der Regelungen zur Konzernklausel, da z.B. die Frage, wer herrschendes Unternehmen im Sinne des § 6a GrEStG ist, bei Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise noch schwieriger zu beantworten ist.
Fazit und Implikationen für die Praxis
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise gewinnt im Grunderwerbsteuerrecht zunehmend an Bedeutung. Bei geplanten Anteilsübertragungsvorgängen dürfen sich Steuerpflichtige daher für Zwecke der Grunderwerbsteuer nicht auf einer rein zivilrechtlichen Betrachtung ausruhen. Vielmehr muss stets auch geprüft werden, ob sich aufgrund der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch andere grunderwerbsteuerliche Konsequenzen ergeben können. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise birgt jedoch nicht nur Risiken, sondern auch Chance. Sie dürfte je nach Lage des Einzelfalls herangezogen werden können, um Steuerbefreiungen bei der Grunderwerbsteuer zu erlangen. Wenn eine Steuerbefreiung daher nach wirtschaftlichen Grundsätzen gerechtfertigt ist, sollten Steuerpflichtige in der Diskussion mit der Finanzverwaltung nicht zu früh aufgeben, sondern für ihr Recht einstehen.
Einen ausführlichen Beitrag zum Thema lesen Sie in DStR 2020, S. 2342 – 2349.