Verletzung der finanzgerichtlichen Sachaufklärungspflicht und Überraschungsentscheidung

10.04.2025 | FGS Blog

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seinem am 27. Februar 2025 veröffentlichten Beschluss (vom 14. Mai 2024, Az. IV B 35/23, abrufbar unter Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof) eine wichtige Entscheidung zur finanzgerichtlichen Sachaufklärungspflicht und den Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung getroffen. Beruft sich ein Finanzgericht (FG) bei der Feststellung ausländischen Rechts auf seine eigene Sachkunde und sieht gleichzeitig von der Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung, einer Entscheidung über das Ablehnungsgesuch des Sachverständigen und der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ab, obwohl die Sachkunde des FG aus dem Gutachten des Sachverständigen herrührt, liegt ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vor. Weist das Gericht darüber hinaus nicht auf die Erledigung des zuvor gefassten Beweisbeschlusses hin, liegt zugleich auch eine Überraschungsentscheidung vor.

Finanzgerichtliche Sachaufklärungspflicht

Das FG erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 FGO - Einzelnorm). Die Sachaufklärungspflicht dient dazu, die Entscheidungsreife für das Verfahren herbeizuführen und die Wahrheit zu erforschen. Zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht hat das FG (möglichst unverzüglich) den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d. h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären. Dazu zählt auch die beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens, jedoch nur, sofern dem FG die erforderliche eigene Sachkunde fehlt. Während das FG die von den Beteiligten (ordnungsgemäß) angebotenen Beweise (z. B. Zeugen) grundsätzlich erheben muss, steht die Zuziehung eines Sachverständigen im pflichtgemäßen Ermessen des FG. Verfügt das FG selbst über die erforderliche Sachkunde, kann es von der Hinzuziehung eines Sachverständigen absehen. Tut es dies, muss es die eigene Sachkunde darlegen.

Verletzung der finanzgerichtlichen Sachaufklärungspflicht

Die Ermessensentscheidung des FG, ein Sachverständigengutachten nicht einzuholen (§§ 82 FGO i. V. m. 404, 412 ZPO), ist dann fehlerhaft ausgeübt, wenn das FG von der Einholung gutachterlicher Stellungnahmen absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit dieser zusätzlichen Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Verfügt das FG ausnahmsweise über die notwendige Sachkunde, muss aus den Urteilsgründen hervorgehen, auf welchen Kenntnissen und Erfahrungen die Sachkunde des FG beruht und wie diese vermittelt worden ist.

Lehnt das FG die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens, eine Entscheidung über das den Sachverständigen betreffende Ablehnungsgesuch der Klägerin und die von der Klägerin begehrte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens mit der Begründung ab, das FG verfüge zwischenzeitlich über eigene hinreichende Sachkunde, sind diese Entscheidungen ermessensfehlerhaft, wenn die finanzgerichtliche Sachkunde aus dem Gutachten des Sachverständigen selbst herrührt. Das FG muss zwar auch bei erfolgreicher Ablehnung eines Sachverständigen keine erneute Begutachtung (§§ 82 FGO i. V. m. 412 ZPO) anordnen, wenn es zwischenzeitlich eigene hinreichende Sachkunde erworben hat. Diese eigene neue Sachkunde des FG darf dann aber nicht überwiegend aus dem Gutachten des abgelehnten Sachverständigen herrühren. Dies gilt entsprechend, wenn ein Beteiligter einen Ablehnungsantrag gestellt hat, über den das FG noch nicht entschieden hat.

Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht gehört nach der Rechtsprechung des BFH zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln (§§ 155 FGO i. V. m. 295 ZPO). Wird der Steuerpflichtige durch einen sachkundigen Prozessbevollmächtigten (z. B. Rechtsanwalt oder Steuerberater) vertreten, geht das Rügerecht durch das Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (i. d. R. in der mündlichen Verhandlung) verloren. Begehrt der Steuerpflichtige eine weitergehende gerichtliche Sachaufklärung durch das FG, muss er daher grundsätzlich in der mündlichen Verhandlung das Übergehen seines dort gestellten Beweisantrages rügen. Ist der Steuerpflichtige in der mündlichen Verhandlung nicht sachkundig vertreten, sind Teile des BFH hingegen mit dem Rügeverlust zurückhaltend. Während einige BFH-Senate davon ausgehen, dass ein Rügeverlust grundsätzlich nicht in Betracht kommt (z. B. Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof, Rz. 7), sehen dies andere BFH-Senate teilweise anders (Grundsätzliche Bedeutung; Sachaufklärungspflicht; übergangener Beweisantrag - Rechtsportal) oder differenzieren dahingehend, ob der Verfahrensverstoß bei einer entsprechenden Wertung in der „Laiensphäre“ für den nicht sachkundig vertretenen Steuerpflichtigen erkennbar ist (Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof, Rz. 7).

Vorliegen einer Überraschungsentscheidung

Eine Überraschungsentscheidung und ein damit verbundener Verstoß gegen das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO) liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verhandlungsverlauf nicht rechnen musste.

Weist das FG vor Erlass seines Urteils nicht auf die Erledigung des Beweisbeschlusses wegen zwischenzeitlich erlangter eigener Sachkunde bei der Feststellung – im konkreten Fall zum kalifornischen Recht – hin, liegt eine Überraschungsentscheidung vor. Denn durch einen Beweisbeschluss entsteht eine Verfahrenslage, auf die sich die Beteiligten einrichten dürfen. Die Beteiligten können grundsätzlich davon ausgehen, dass kein Urteil ergeht, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das FG nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme vollumfänglich durchzuführen. Will das FG von einer Beweisaufnahme absehen, hat es den Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt erachtet. Bringt das FG dies nicht unmissverständlich zum Ausdruck, liegt eine Überraschungsentscheidung vor. Ist der Verfahrensmangel nicht erkennbar, kann und muss dieser nicht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung gerügt werden (Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof, Rz. 27).

Fazit

Während das FG die von den Beteiligten angebotenen Beweise grundsätzlich erheben muss, steht die Zuziehung eines Sachverständigen im pflichtgemäßen Ermessen des FG. Das Ermessen ist jedoch dann fehlerhaft ausgeübt, wenn das FG von der Einholung eines Sachverständigengutachtens absieht (z. B. zu ausländischem Recht), obwohl sich dies für die Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Die Urteilsgründe müssen hier Aufschluss darüber geben, auf welchen Erfahrungen und Kenntnissen die eigene Sachkunde des FG beruht. Die Sachaufklärungspflicht ist verletzt, wenn sich das FG auf seine eigene Sachkunde beruft, obwohl die Sachkunde aus einem Sachverständigengutachten erworben worden ist, bei dem das FG die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens, die Ablehnung des Sachverständigen oder die Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgelehnt hat. Weist das Gericht darüber hinaus nicht auf die Erledigung des zuvor gefassten Beweisbeschlusses hin, liegt zugleich auch eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen das Recht auf Gehör vor. Da es sich bei der Verletzung einer Sachaufklärungspflicht nach der BFH-Rechtsprechung um einen verzichtbaren Verfahrensmangel handelt (jedenfalls dann, wenn ein sachkundiger Prozessbevollmächtigter handelt), ist dem Steuerpflichtigen zu raten, zwingend bereits in der mündlichen Verhandlung das Übergehen seines gestellten Beweisantrages zu rügen.