Der Bundesfinanzhof (BFH) hat kürzlich mit seiner Entscheidung XI R 5/21 offengelassen, wann das Recht auf Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger entsteht, wenn beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist. Damit hat der BFH deutlich mehr Probleme geschaffen als auf den ersten Blick ersichtlich. Leistungsbeziehungen sollten genau darauf untersucht werden, ob die Leistung von einem Ist-Besteuerer bezogen wurden oder nicht.
Sachverhalt
In dem Streitfall ging es um den Widerruf einer Genehmigung der Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten (sog. Ist-Besteuerung). Im Rahmen einer Prüfung wurde festgestellt, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Firmen (Leistungsempfängerinnen) unternehmerisch tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer ausgestellt hatte, die von den Leistungsempfängerinnen jedoch nur über Verrechnungskonten gebucht und zudem über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt wurden. Das Finanzamt widerrief daraufhin die Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten. Dabei äußerte das Finanzamt die Vermutung, dass die Gestattung bei nahestehenden Personen missbraucht werde (Gefährdung des Steueraufkommens), da das Zusammenspiel von § 20 UStG einerseits und § 15 UStG andererseits die Gefahr des Missbrauchs und des Steuerausfalls nahelege.
Das Finanzamt begründete auf Basis des § 20 UStG und der MwStSystRL weitergehend:
- Die Vornahme des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger bei gleichzeitig fehlenden Umsätzen beim leistenden Unternehmen rechtfertige bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die dem leistenden Unternehmen erteilte Zustimmung gemäß § 20 UStG missbraucht werde. Das Verhalten bringe zudem die Gefahr von endgültigen Steuerausfällen mit sich. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Klägers könne das Finanzamt nicht feststellen, ob tatsächliche Steuerausfälle eingetreten sind.
- Aus der Abhängigkeit des Entstehens des Rechts auf Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger von der Entstehung der Steuer beim leistenden Steuerpflichtigen gemäß Art. 167 MwStSystRL folge, dass wenn der Leistende ausnahmsweise seine Leistungen gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nach vereinnahmten Entgelten besteuere, auch das Recht auf Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger erst zu diesem Zeitpunkt, also mit Bezahlung der Rechnung, entstehe.
Entscheidung des BFH
Der BFH geht entgegen dem Finanzamt davon aus, dass kein Missbrauch des leistenden Unternehmers dadurch gegeben ist, dass die Leistungsempfänger sofort den Vorsteuerabzug vornehmen. Es liegt also grundsätzlich kein Missbrauch vor. Aber der BFH vertrat ein grundlegend anderes Verständnis zum Zeitpunkt der Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug.
Grundsätzlich stimmt der BFH dem Finanzamt darin zu, dass unionsrechtlich den Leistungsempfängern der Vorsteuerabzug erst bei Zahlung zusteht. Dies beruht maßgeblich auf dem EuGH-Urteil Kollaustraße. Hier hat der EuGH entschieden, dass Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist. Das bedeutet wiederum, dass der von Finanzamt und Finanzgericht unterstellte Missbrauch kraft Unionsrechts nicht entstehen werden. Das Recht auf Vorsteuerabzug wird nämlich nach Art. 167, 179 S. 1 MwStSystRL während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, d.h., wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht.
Ein zeitliches Auseinanderfallen zwischen dem Recht auf Vorsteuerabzug zur Ausführung (Art. 63 MwStSystRL) bzw. zur Vereinnahmung des Umsatzes (Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL) ist unionsrechtlich nicht möglich. Daher beruht das beanstandete Verhalten des Klägers laut BFH – wenn überhaupt – auf der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Dann ist aber auch die künftige Steuerentstehung bei der Ist-Besteuerung laut BFH nicht missbräuchlich, denn die Inanspruchnahme einer gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit ist kein Missbrauch. Denn Deutschland hat von der Möglichkeit aus Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL durch § 20 UStG Gebrauch gemacht.
Nach dieser grundlegenden Aussage lässt der BFH dann jedoch offen, wann das Recht auf Vorsteuerabzug explizit entsteht. Denn darüber, ob die gesetzlich noch nicht geschuldete Steuer noch nicht abziehbar ist, ist in den Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen zu entscheiden.
Auswirkung auf die Praxis
Der BFH hat damit der Interpretation Tür und Tor geöffnet und es ist nun an den Rechtsanwendern mit diesem BFH-Urteil umzugehen. Damit steht zumindest fest, dass die Ist-Besteuerung nicht per se den Missbrauch indiziert. Jedoch ist auf Basis der offenen Aussage des BFH bereits jetzt der Vorsteuerabzug der Leistungsempfängerin zumindest gefährdet. Es steht zu vermuten, dass der BFH auch in einer Folgeentscheidung das Recht auf Vorsteuerabzug erst bei Vereinnahmung, also wenn die Steuer gesetzlich geschuldet ist, entstehen lässt.
Dies bringt erhebliche Unsicherheit für die die Rechtsanwender. Derzeit gibt es keine Vorgabe, dass auf der Rechnung vermerkt ist, ob der Leistende die Ist-Besteuerung anwendet. Es besteht also grundsätzlich nur die Möglichkeit den Leistenden nach dieser Information zu fragen. Ohne dies kann sich der Rechtsanwender nicht sicher sein, ob das Recht auf Vorsteuerabzug bereits entstanden ist