Zum Gründungsprozess einer sog. Societas Europaea (SE), einer Europäischen Aktiengesellschaft, gehört die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens. Eine Ausnahme hiervon hat die Rechtsprechung für den Fall der Gründung einer arbeitnehmerlosen „Vorrats“-SE gemacht (vgl. nur OLG Düsseldorf, Beschl. vom 30.03.2009 – I-3 Wx 248/08). Über viele Jahre war in der Praxis anerkannt, dass das Beteiligungsverfahren im Rahmen der Aktivierung einer Vorrats-SE nachzuholen ist.
In einem Vorabentscheidungsverfahren entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH, C-706/22) nach Vorlage durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor wenigen Monaten, das europäische Recht sehe – vereinfacht ausgedrückt – grundsätzlich keine Pflicht zur Nachholung eines bei Gründung unterbliebenen Beteiligungsverfahrens vor.
Das BAG hatte am 26.11.2024 erneut über den Fall – und zwei weitere zu diesem Thema – zu entscheiden.
Die Entscheidungsgründe liegen zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags noch nicht vor. Nach Angaben des BAG kann es von der Verkündung der Urteilsformel bis zur Veröffentlichung des vollständigen Urteils auf der Website einige Wochen oder Monate dauern. Sodann dürfte auch die Fachpresse vertieft über die Entscheidungen berichten.
Im Folgenden wird vorab von den Verfahren und den Eindrücken aus der mündlichen Verhandlung berichtet.
BAG entscheidet in keinem der drei Fälle auf eine Nachholungspflicht
Im Ergebnis entschied das BAG in keinem der drei Fälle auf eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens.
Es steht allerdings zu erwarten, dass das strafbewehrte Missbrauchsverbot nach § 43 SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) in entsprechenden Fällen stärker in den Fokus rückt. Hiernach darf eine SE nicht dazu missbraucht werden, den Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten – was dementsprechend bei jeglichen SE-Gestaltungen sicherzustellen ist.
Austausch einer Komplementär-GmbH durch Vorrats-SE (1 ABR 3/23, 1 ABR 6/23)
In den Verfahren 1 ABR 3/23 und 1 ABR 6/23 sind die Sachverhalte strukturell praktisch gleich und lauten vereinfacht wie folgt:
Eine GmbH & Co. KG betreibt einen Betrieb mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern. Bei der Komplementär-GmbH war kein mitbestimmter Aufsichtsrat eingerichtet. Im Dezember 2019 beantragte der Betriebsrat die gerichtliche Feststellung, dass ein solcher zu bilden sei. Zum 01.01.2020 wurde die GmbH durch eine arbeitnehmerlose Vorrats-SE, die die KG einige Zeit zuvor selbst erworben hatte, ausgetauscht. Strukturell lag damit eine sogenannte „Einheits-SE & Co. KG“ vor. Ein Beteiligungsverfahren fand bei der Vorrats-SE zu keinem Zeitpunkt statt. Die Arbeitnehmerseite begehrte dessen Durchführung.
Umwandlung einer mitbestimmten GmbH in eine SE & Co. KG (1 ABR 37/20)
Im Verfahren 1 ABR 37/20 lautet der Sachverhalt vereinfacht wie folgt:
Arbeitnehmerlose Gesellschaften in einem Konzern gründeten eine Holding-SE mit Sitz in London. Ein Beteiligungsverfahren fand bei der Holding-SE zu keinem Zeitpunkt statt. Kurze Zeit nach der Gründung wurde die Holding-SE Alleingesellschafterin einer drittelmitbestimmten GmbH. Die GmbH wurde sodann in eine SE & Co. KG umgewandelt, wobei als Komplementär-SE eine zweite (Vorrats-)SE eingesetzt wurde. Durch die Umwandlung entfiel die vorgenannte unternehmerische Mitbestimmung. Nach Sitzverlegung nach Deutschland begehrte die Arbeitnehmerseite die Nachholung des Beteiligungsverfahrens.
Die wesentliche Rechtsfrage lautete: Besteht eine Verpflichtung zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens und, wenn ja, nach welcher Norm?
Aus der mündlichen Verhandlung
Die Vorsitzende erklärte, der Senat werde die Pflicht zur Nachholung eines Beteiligungsverfahrens anhand der §§ 4, 18, 43 SEBG – ggf. jeweils analog – zu prüfen haben.
Hinsichtlich einer direkten Anwendung des § 4 Abs. 1 SEBG bzw. § 18 Abs. 3 SEBG nahm die Vorsitzende Bezug auf die Ausführungen des Senats in seiner Vorlagefrage an den EuGH. Insbesondere spreche gegen § 4 Abs. 1 SEBG, dass dieser nur auf das Beteiligungsverfahren bei einer „geplanten Gründung“ anwendbar sei, nicht auch auf ein solches nach Gründung und Eintragung; gegen § 18 Abs. 3 SEBG u.a., dass dieser eine „Wiederaufnahme“ und keine erstmalige Verhandlung regele.
Weiter habe der Senat zu klären, ob das SEBG eine planwidrige Regelungslücke enthalte, sodass eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 1 SEBG oder § 18 Abs. 3 SEBG in Betracht käme. Die Vorsitzende erklärte, dass sich der nationale Gesetzgeber den Regelungsplan des europäischen Gesetzgebers wohl zu eigen gemacht haben dürfte – eine planwidrige Regelungslücke enthalte das europäische Recht nach der Vorabentscheidung des EuGH (C-706/22) nicht.
Die sich dann stellende Frage sei, ob aus einem etwaigen Missbrauch nach § 43 SEBG ein „Anspruch“ auf die Nachholung folgt. Der Senat werde hierzu insbesondere den Wortlaut und Zweck des § 43 SEBG auszulegen haben. Die Vorsitzende wies auf die Strafsanktion in § 45 SEBG hin und stellte dies § 36 MgFSG gegenüber, in welchem – statt der Strafsanktion – eine Nachholungspflicht vorgesehen sei.
In der weiteren Diskussion wurde von der Arbeitnehmerseite auch erwähnt, dass es nicht nur um unternehmerische Mitbestimmung gehe; die Möglichkeit zur Bildung eines SE-Betriebsrats gehe bei Vorrats-SEs ggf. ebenso verloren.
Einschätzung
Feststeht bis zur Veröffentlichung der Entscheidungsgründe nur, dass das BAG in den konkreten Fällen keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens tenoriert hat.
Ausgehend von dieser Tenorierung und dem Eindruck aus der mündlichen Verhandlung scheint gut möglich, dass das BAG – wie nach der Entscheidung des EuGH zu erwarten – eine Pflicht zur Nachholung auf Basis der §§ 4, 18 SEBG (direkt oder analog) ablehnt, eine Nachholungspflicht aus dem Missbrauchsverbot weitergehend prüft und letztlich offenbar ebenfalls ablehnt. An der Geltung des strafbewehrten Missbrauchsverbots ändert dies indes nichts. Klarheit werden erst die Entscheidungsgründe bringen.
Für die Praxis werden die Entscheidungsgründe daraufhin zu untersuchen sein, ob auch Aussagen über die Möglichkeit einer „freiwilligen Nachholung“ getroffen werden.