In der jüngeren Vergangenheit riefen beide Umsatzsteuersenate des BFH den EuGH zur Unionsrechtskonformität der deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft an (vgl. unser Blog v. 5.8.2020). Nunmehr liegen die Schlussanträge der Generalanwältin in dem Verfahren des XI. Senats vor (C-141/20). Übernimmt der EuGH die Ausführungen, zeichnen sich möglicherweise große Steuerausfälle, jedenfalls aber umfassende Folgen für das deutsche Umsatzsteuerrecht ab.
Vorlageverfahren des XI. Senats
Die NGD GmbH hat zwei Gesellschafter (A 51% / B 49%). Nach den gesellschaftsvertraglichen Regelungen bestand keine Stimmrechtsmehrheit zugunsten des Mehrheitsgesellschafters. Die Finanzverwaltung lehnte eine umsatzsteuerliche Organschaft ab, da es an der finanziellen Eingliederung fehle. Mangels Stimmrechtsmehrheit könne A keine Beschlüsse bei der NGD GmbH durchsetzen.
Nach nationalem Umsatzsteuerrecht ist dieses Ergebnis eindeutig. Dennoch ersuchte der BFH den EuGH um Klärung, welche Partei im Falle einer umsatzsteuerlichen Organschaft der Unternehmer ist. Denn aus unionsrechtlicher Sicht könnte anstelle des Organträgers vielmehr der Organkreis als „fiktiver“ Steuerpflichtiger anzusehen sein.
Diese Sichtweise könnte erhebliche fiskalische Auswirkungen entfalten. In dem parallelen Verfahren (V R 40/19) bezifferte der BFH einen möglichen Steuerausfall allein für das Haushaltsjahr 2018 auf knapp 25 Mrd. €. Dies könnte daraus resultieren, dass sich Organträger möglicherweise auf die Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Norm berufen können und eine Umsatzbesteuerung daher auf ihrer Ebene ausscheidet. Für die Organgesellschaften könnte Gleiches gelten, wenn sie auf der Anwendung der aktuellen deutschen Regelung bestehen.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Organgesellschaften ihre Tätigkeit nicht selbständig ausüben und bloße unselbständige Teile des Unternehmens des Organträgers sind. Nach nationalem Recht existiert bei einer umsatzsteuerlichen Organschaft daher nur ein Unternehmer – zwingend der beherrschende Organträger.
Schlussanträge der Generalanwältin
Der Antwortvorschlag der Generalanwältin ist bemerkenswert, da er über die eigentlichen Vorlagefragen hinausgeht. Die Generalanwältin lässt deutlich erkennen, dass bereits die deutsche Grundkonzeption der umsatzsteuerlichen Organschaft, nach der nur noch ein Steuerpflichtiger existiert, nicht unionsrechtskonform ist.
Denn nach der Rechtsauffassung der Generalanwältin verlieren die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe durch deren Existenz nicht ihre Unternehmereigenschaft. Vielmehr bezwecke die Mehrwertsteuergruppe (nur) eine Vereinfachung zur Erfüllung der umsatzsteuerlichen Pflichten mehrerer – durch die Mehrwertsteuergruppe verbundene – Unternehmen. Sie bewirke lediglich, dass der Fiskus für die Mehrwertsteuergruppe nur eine konsolidierte Steuererklärung und auch nur eine Mehrwertsteuerzahlung erhalten soll. Dies soll durch einen Vertreter erfolgen, der gegenüber dem Fiskus auftritt. Der Vertreter müsse nicht zwangsläufig das beherrschende Mitglied der Mehrwertsteuergruppe sein. Der Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, ist die Mehrwertsteuergruppe selbst.
Die Generalanwältin kommt damit zu dem Ergebnis, dass es jeweils unionsrechtswidrig ist, nur das beherrschende Mitglied als Steuerpflichtigen und als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe zu bestimmen. Abschließend führt die Generalanwältin aus, dass sich die deutsche Sichtweise nicht als „Maßnahme zur Verhinderung missbräuchlicher Steuerpraktiken“ rechtfertigen lässt.
Mögliche Auswirkungen
Im Ergebnis spricht die Generalanwältin der deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft ihre Unionsrechtskonformität ab.
Mithin stellt sich auch die Frage, ob Umsätze zwischen den im Inland belegenen Mitgliedern der umsatzsteuerlichen Organschaft bloße nicht steuerbare Innenumsätze darstellen können. Ein Rechenbeispiel der Generalanwältin, mit dem sie die Auswirkungen einer Mehrwertsteuergruppe vorrechnet, lässt hieran zweifeln. Denn in diesem Beispiel fällt Umsatzsteuer auch für Leistungen innerhalb der Gruppe an. Ob die Generalanwältin dem nicht steuerbaren Innenumsatz damit eine endgültige Absage erteilen wollte, bleibt allerdings unklar.
Schließlich könnte das Verständnis der Generalanwältin weitere Änderungen im Hinblick auf die umsatzsteuerliche Bewertung bestimmter Sachverhalte in Deutschland nach sich ziehen, für die die Organschaft Relevanz entfaltet. Dies könnte beispielsweise Konstellationen betreffen, in denen Leistungen seitens des Organträgers und einer Organgesellschaft an den gleichen Leistungsempfänger als einheitliche Leistung bewertet werden, da die Organschaft als ein Unternehmen anzusehen ist (XI R 74/07). Gleiches gilt für die Übertragung eines an eine Organgesellschaft vermieteten Grundstücks auf den Organträger, die nicht zu einer Geschäftsveräußerung im Ganzen führt, da der Organträger umsatzsteuerlich keine Vermietungstätigkeit fortsetzt, sondern das Grundstück im Rahmen seines Unternehmens selbst nutzt (V R 26/09). Es erscheint fraglich, ob diese Bewertungen mit der Wirkung einer Mehrwertsteuergruppe nach der Rechtsauffassung der Generalanwältin in Einklang zu bringen sind.
Folgen für die Praxis
Es ist unklar, ob der EuGH die Rechtsauffassung der Generalanwältin übernimmt. Mithin ist derzeit noch nicht absehbar, ob die vom V. Senat des BFH befürchteten Steuerausfälle tatsächlich eintreten. Die Klärung entsprechender verfahrensrechtlicher Folgefragen dürfte die höchstrichterliche Rechtsprechung in diesem Fall noch einige Zeit beschäftigen.
In Anbetracht der weiterhin bestehenden Unsicherheit wäre angesichts der möglichen Folgen denkbar, betroffene Umsatzsteuer-Veranlagungen offenzuhalten. Darüber hinaus sollte eruiert werden, ob im Rahmen von Transaktionen, beispielsweise der Verkauf von Anteilen an einer Organgesellschaft, vertragliche Klauseln zu Absicherung von Risiken im Zusammenhang mit dieser Thematik aufgenommen werden sollten. Konkrete Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen sind darüber hinaus stets vom Einzelfall abhängig.