Der EuGH hat mit Urteil v. 22.9.2022 (Rs. W, C-538/20) entschieden, dass die Versagung der Abzugsfähigkeit „finaler“ ausländischer Betriebsstättenverluste aufgrund einer DBA-Freistellung nicht gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. Das Urteil könnte damit das Ende der Berücksichtigung finaler (Betriebsstätten‑)Verluste bedeuten. Allerdings war die EuGH-Rechtsprechung zu finalen Verlusten bislang keineswegs von einer „Finalität“ geprägt.

Bisherige Rechtsprechung des EuGH

Finale Verluste sind seit der Grundsatzentscheidung des EuGH v. 13.12.2005 (Rs. Marks & Spencer, C-446/03) ein Dauerthema im internationalen Steuerrecht. In der Marks & Spencer-Entscheidung stellte der EuGH fest, dass eine vollständige Ausgrenzung von „finalen“ Verlusten einer ausländischen Tochtergesellschaft im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft einen unverhältnismäßigen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit begründen kann. Mit dem Urteil v. 15.5.2008 (Rs. Lidl Belgium, C-414/06) wurden diese Grundsätze auf Verluste ausländischer Betriebsstätten erweitert. Die weitere Rechtsprechung des EuGH war jedoch nicht von Kontinuität geprägt.

So wurde z.B. eine stillschweigende Kehrtwende im Urteil des EuGH v. 17.12.2015 (Rs. Timac Agro, C-388/14) gesehen. Darin hat der EuGH (erstmals) eine fehlende Vergleichbarkeit eines nationalen mit einem grenzüberschreitenden Betriebsstätten-Sachverhalt festgestellt. Dies aufgrund der Tatsache, dass dem Stammhausstaat im reinen Inlandsfall das Besteuerungsrecht an Gewinnen und Verlusten aller Betriebsstätten zustehe, im grenzüberschreitenden Fall das Besteuerungsrecht des Stammhausstaates aber aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens ausgeschlossen sei. Die Finanzverwaltung, der BFH (s. Urteil v. 22.2.2017 – I R 2/15) sowie die herrschende Meinung im Schrifttum entnahmen dem Urteil ein Ende der Verlustberücksichtigung ausländischer Freistellungsbetriebsstätten.

Eine weitere Kehrtwende des EuGH wurde im Urteil v. 12.6.2018 (Rs. Bevola und Jens W. Trock, C-650/16) gesehen. Streitgegenständlich war die Nichtberücksichtigung ausländischer Betriebsstätteneinkünfte aufgrund einer unilateral wirkenden, nationalen (hier: dänischen) Vorschrift. Der EuGH bejahte in diesem Fall die objektive Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Falls mit einem reinen Inlandsfall und kehrte im Ergebnis zu den Grundsätzen seiner Entscheidungen Marks & Spencer und Lidl Belgium zurück. Danach war eine Berücksichtigung ausländischer finaler Betriebsstättenverluste auf Basis der Niederlassungsfreiheit geboten.

Angesichts der divergierenden EuGH-Entscheidungen hatte der BFH mit seiner Vorlage v. 6.11.2019 – 32/18 eine Reihe von Fragen gestellt, von denen nunmehr jedoch nur die erste beantwortet wurde.

Kernaussagen des Urteils v. 22.9.2022

Klägerin des Streitfalls war eine deutsche Wertpapierhandelsbank, die im August 2004 eine Zweigniederlassung im Vereinigten Königreich eröffnete. Im Februar 2007 wurde die Zweigniederlassung mit Verlusten wieder geschlossen. Aufgrund der Freistellung von Betriebsstätteneinkünften im DBA mit Großbritannien wurde der Abzug der Verluste in Deutschland vom Finanzamt versagt.

Der EuGH folgt in seiner Entscheidung den Schlussanträgen des Generalanwalts Collins v. 10.3.2022 und kommt zum Ergebnis, dass kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vorliege. Da Deutschland aufgrund des DBA auf sein Besteuerungsrecht hinsichtlich der ausländischen Betriebsstätteneinkünfte verzichtet habe, befinde sich eine in Deutschland ansässige Gesellschaft mit ausländischer Betriebsstätte nicht in einer vergleichbaren Situation wie eine entsprechende gebietsansässige Gesellschaft mit einer in Deutschland belegenen Betriebsstätte.

Nach Auffassung des EuGH soll diese Sichtweise nicht im Widerspruch zum Urteil in der Rechtssache Bevola stehen. Denn in dieser Entscheidung habe Dänemark einseitig (d.h. durch nationales Recht) auf die Ausübung seiner Besteuerungsrechte für die in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Betriebsstätteneinkünfte verzichtet.

Würdigung des Urteils und Praxisfolgen

Auf den ersten Blick scheint das Urteil das Ende der sog. „finalen“ Verluste einzuleiten: Verluste ausländischer Freistellungsbetriebsstätten sind auch bei Finalität (bspw. bei Schließung der Betriebsstätte) nicht im Stammhausstaat zu berücksichtigen. Die Finanzverwaltung wird auf dieser Basis voraussichtlich auch weiterhin Verluste aus Freistellungsbetriebsstätten nicht anerkennen.

Allerdings leuchtet die Abgrenzung zur Rechtssache Bevola nicht ein: Warum sollte ein einseitiger Verzicht auf die Besteuerung anders zu behandeln sein als ein abkommensrechtlicher? Für den einzelnen Bürger erwachsen aus völkerrechtlichen Verträgen wie DBAs keine Rechte und Pflichten, vielmehr bewirkt das Transformationsgesetz die Umsetzung des DBA in nationales Recht. Damit stellt ein DBA für den Steuerpflichtigen ein gewöhnliches Gesetz dar. Dem Gesetzgeber ist es sogar möglich durch (verfassungsrechtlich zulässige) „treaty-overrides“ vom Abkommensrecht abweichende Regelungen zu erlassen, bspw. § 50d Abs. 9 EStG oder § 20 Abs. 2 AStG. Eine Unterscheidung zwischen unilateraler und abkommensrechtlicher Freistellung erscheint daher nicht nachvollziehbar.

Daneben ist fraglich, wie ein Verzicht auf die Besteuerung ausländischer Betriebsstätteneinkünfte sowohl nach DBA als auch nach nationalem Recht zu behandeln ist, wie beispielsweise im Rahmen der Gewerbesteuer. Nach dem EuGH-Urteil dürfte eine zusätzliche Freistellung nach nationalem Recht nicht anders zu behandeln sein als eine Freistellung allein auf Basis eines DBA. Unklar ist daneben, wie der EuGH einen Fall behandelt hätte, in dem eine im DBA selbst angelegte subject-to-tax Klausel einschlägig wäre. In diesem Fall würde Deutschland nämlich auch bilateral nicht auf sein Besteuerungsrecht verzichten.

Angesichts der noch offenen Zweifelsfragen ist nicht auszuschließen, dass die vorliegende Entscheidung des EuGH noch nicht das Ende der finalen Verluste darstellt, sondern lediglich einen weiteren Zwischenschritt.