Lehren aus der Corona-Pandemie - § 128a ZPO aus dem „Dornröschenschlaf“ wecken

05.05.2020

Die Ausbreitung der Corona-Pandemie macht auch vor dem deutschen Justizsystem nicht halt. Zwar ist der Betrieb der Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht vollends zum Erliegen gekommen. Doch auch in der Justiz sind die Auswirkungen der zum Schutz der weiteren Ausbreitung des Coronavirus getroffenen staatlichen Maßnahmen deutlich spürbar. Die virtuelle Gerichtsverhandlung kann einen Ausweg bieten.

Justiz stellt in der Corona-Krise um auf Notbetrieb

Um zumindest eine grundlegende Funktionstüchtigkeit des Justizsystems zu gewährleisten, wurde die Tätigkeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften weitgehend auf einen Notbetrieb beschränkt. Ein Großteil der Richter und Staatsanwälte wurde angewiesen, zu Hause zu bleiben, um die Gefahr einer zeitgleichen Ansteckung vieler Mitarbeiter der Justiz auf ein Minimum zu reduzieren. Flankierend dazu wurden Maßnahmen getroffen, das sogenannte Kontaktverbot umzusetzen. Der der Parteiverkehr wurde somit in den Gerichtsgebäuden auf das unbedingt notwendige Maß minimiert.

 

Die die elementaren Verfahrens- und Parteienrechte sollten all diese Maßnahmen selbstverständlich nicht unzulässig beschneiden. Und sie sollten auch den verfassungsmäßigen Auftrag der Judikative, den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten, nicht gefährden. Die Maßnahmen zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass – bis auf wenige Einzelfälle und Eilverfahren – viele Gerichte bereits anberaumte Gerichtstermine aufhoben bzw. um Monate verschoben. Die aus Sicht der Rechtssuchenden ohnehin oftmals für zu lang empfundene Verfahrensdauer hat dies nochmals teils deutlich verlängert.

 

Es stellt sich daher die Frage: Kann moderne Kommunikationstechnik künftig dazu beitragen, den Justizprozess zu beschleunigen? Und kann die virtuelle Gerichtsverhandlung gleichzeitig von Krisen unabhängiger machen?

Einfluss der Digitalisierung

Schon jetzt ist erkennbar, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens den Digitalisierungsprozess in Deutschland insgesamt vorantreibt (vgl. Conrad/Tabrizi, MMR 2020, 205). Das Spektrum reicht vom breiten Angebot von Online-Vorlesungen durch die Universitäten über digitale Unterrichtsangebote von Seiten der Schulen hin zu einem deutlichen Anstieg der Akzeptanz von Homeoffice-Lösungen. Wesentliche Bausteine sind dabei die elektronische Aktenführung, der Schriftverkehr per E-Mail und die Kommunikation per Telefon und Videoübertragung. Diese Bausteine sind in der Privatwirtschaft bereits seit Jahren etabliert. Die staatliche Justiz hinkt dieser Entwicklung jedoch bekanntermaßen in weiten Teilen deutlich hinterher.

 

Die Korrespondenz per E-Mail wurde durch die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) im Jahr 2018 weitgehend erreicht. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten funktioniert das beA mittlerweile aber recht zuverlässig. Ob dies zu einer nennenswerten Reduktion der Papierakten geführt hat, darf – jedenfalls bei den Gerichtsakten – bezweifelt werden. Denn die (wohl meisten) Gerichte drucken die elektronisch eingehenden Schriftsätze nebst Anlagen aus und nehmen sie dann (doch) zur Papierakte.

Öffentlichkeitsgrundsatz im digitalen Zeitalter

Noch schwieriger gestaltet sich der Schritt der Justiz zur Nutzung der Kommunikationstechnologie des 21. Jahrhunderts außerhalb des Schriftverkehrs. Das liegt allerdings nicht nur an einer gewissen Trägheit der öffentlichen Verwaltung. Es ist vielmehr auch bestimmten, sich aus den zivilprozessualen Verfahrensgrundsätzen ergebenden Restriktionen geschuldet.

 

Einer der wesentlichen zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze ist der sog. Öffentlichkeitsgrundsatz gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG. Danach ist die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich. Der Öffentlichkeitsgrundsatz dient, indem er die Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit gewährleistet, dem Vertrauen der Allgemeinheit in die Judikative (EGMR, NJW 1986, 2177 (2178)). Die aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz abgeleitete sog. Saalöffentlichkeit gewährt jedem interessierten Zuschauer ein Zutrittsrecht zur mündlichen Verhandlung (Paschke, MMR 2019, 563 (564)). Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind jedoch gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 GVG unzulässig.

Spagat zwischen Öffentlichkeitsgrundsatz und Fernkommunikation

Zwischen Fernkommunikation einerseits und der Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei gleichzeitiger Vermeidung der öffentlichen Übertragung von Filmaufnahmen der mündlichen Verhandlung oder der Beweisaufnahme muss die Justiz einen Spagat meistern. Dazu hat der Gesetzgeber § 128a in die Zivilprozessordnung eingefügt. Danach kann die mündliche Verhandlung oder auch die Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen im Wege der Videokonferenz stattfinden. Dabei sind Bild und Ton zwingend (auch) in den Sitzungsraum zu übertragen. Die interessierte Öffentlichkeit kann auf diesem Wege der Verhandlung bzw. der Vernehmung vom Sitzungsraum aus virtuell folgen (vgl. MüKoZPO/Fritsche, 5. Aufl. 2016, ZPO § 128a Rn. 3).

Virtuelle Gerichtsverhandlung per Videokonferenz längst möglich

Der Gesetzgeber hat § 128a ZPO mit Gesetz vom 27. Juli 2001 mit Wirkung zum 1. Januar 2002 in die Zivilprozessordnung eingefügt. Die virtuelle Gerichtsverhandlung ist damit nunmehr „volljährig“. Dennoch machen die Gerichte von der Möglichkeit der Videokonferenz so gut wie nie Gebrauch. Das liegt u. a. auch daran, dass es in den letzten 18 Jahren offensichtlich nicht gelungen ist, die Gerichte technisch so auszurüsten, dass sie überhaupt in der Lage sind – außer in Einzelfällen – mündliche Verhandlungen per Videokonferenz abzuhalten.

Virtuelle Gerichtsverhandlung hat Nachteile

Gewiss hat die Führung einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz oder sogar nur per Telefonkonferenz (was derzeit ohnehin unzulässig ist) einige Nachteile gegenüber der Verhandlung mit persönlicher Anwesenheit der Beteiligten. Das zeigt die Erfahrung des Verfassers aus Schiedsgerichtsverhandlungen, in denen die Nutzung moderner Kommunikationstechnik deutlich verbreiteter ist als vor staatlichen Gerichten. Zur zwischenmenschlichen Kommunikation gehört eben nicht nur das gesprochene Wort, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil auch die Körpersprache. Dabei kommt es auch auf subtile, teils nur unterbewusst wahrnehmbare Elemente der Gestik und Mimik an. Davon geht durch die virtuelle Gerichtsverhandlung naturgemäß ein Teil „verloren“. Das kann – insbesondere bei der Zeugenvernehmung – die Wahrheitsfindung durchaus erschweren.

 

Für sogenannte Durchlauftermine und solche, bei denen die Parteien nicht persönlich geladen sind und es auch keine Beweisaufnahme gibt, dürfte sich die Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung durch eine virtuelle Gerichtsverhandlung jedoch in Grenzen halten. Gleichzeitig würde die Prozessführung für die Rechtssuchenden durch die Einsparung der anwaltlichen Reisekosten günstiger werden. Insbesondere bei Verfahren mit geringen Streitwerten können die Kosten der Terminwahrnehmung einen nicht unerheblichen Teil der Prozesskosten ausmachen.

Virtuelle Gerichtsverhandlung kein Allheilmittel

Die Videokonferenz in der Justiz kann und soll kein „Allheilmittel“ sein. Die virtuelle Gerichtsverhandlung ist nicht in der Lage die Präsenzverhandlung an den Gerichten vollständig zu ersetzen. Das soll sie aber auch nicht. Ein erster Schritt wäre bereits dadurch getan, diese zivilprozessuale Möglichkeit nach nunmehr 18 Jahren aus ihrem „Dornröschenschlaf“ zu wecken. Die virtuelle Gerichtsverhandlung sollte regelmäßig dann eingesetzt werden, wenn es sich lohnt. Dies würde zur Effizienzsteigerung der Justiz bei gleichzeitiger Kostenreduktion für die Parteien beitragen.

 

Die COVID-19-Krise kann für die Justiz die Gelegenheit sein, technisch im 21. Jahrhundert anzukommen. Das setzt neben der umfassenden technischen Aufrüstung der Gerichte für die virtuelle Gerichtsverhandlung auch ein gewisses Umdenken bei der Richterschaft voraus. Gleiches gilt aber auch für die Anwaltschaft. Denn gemäß § 128a ZPO ist es nicht nur Sache des Gerichts, von Amts wegen die Verhandlung per Videokonferenz zu gestatten. Vielmehr sehen § 128a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ZPO auch ein entsprechendes Antragsrecht der Beteiligten vor. Erfahrungsgemäß werden derartige Anträge jedoch höchstselten gestellt. Das könnte (und sollte) sich durch COVID-19 ändern. Es steht zu erwarten, dass eine steigende Nachfrage nach virtuellen Verhandlungen durch die Rechtssuchenden bzw. ihre Prozessbevollmächtigten den Staat dazu bewegen könnte, das Angebot entsprechend anzupassen.