Indirect Taxes

EuGH-Urteile vom 1. Dezember 2022 zur umsatzsteuerlichen Organschaft

06.12.2022 | FGS Blog

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in zwei Entscheidungen (Urteile vom 1.12.2022, C-141/20 und C-269/20) zu Fragestellungen der umsatzsteuerlichen Organschaft Stellung genommen. Der Bundesfinanzhof (BFH) wandte sich in den Verfahren BFH V R 40/19 und BFH XI R 16/18 u.a. mit Fragen zu den Voraussetzungen der finanziellen Eingliederung und der Bestimmung des Steuerpflichtigen an den EuGH.

1. Hintergrund

Die Rechtsprechung des EuGH prägt zunehmend die Organschaft im deutschen Umsatzsteuerrecht und zwingt nationale Gerichte und die Finanzverwaltung zu Anpassungen (etwa in dem Verfahren C-868/19 zu Personengesellschaften in der Organschaft). Betraf dies bisher die Tatbestandsmerkmale der Organschaft, so sind es nun erstmals auch die Rechtsfolgen, die im Fokus der Entscheidung stehen. Entlang der Vorlagefragen seien im Folgenden die wichtigsten Leitlinien der EuGH-Urteile dargestellt.

2. Der Organträger als Steuerpflichtiger

In beiden Verfahren stellte sich die Frage, ob es einem Mitgliedstaat gestattet ist, den Organträger als Steuerpflichtigen des Organkreises zu bestimmen, oder ob Steuerpflichtiger ein danebenstehendes Steuersubjekt – die Mehrwertsteuergruppe als solche – sein muss. In beiden Vorlageverfahren beantwortet der EuGH diese Fragen gleich:

Entscheidendes Merkmal der Organschaft ist, dass die Mitglieder des Organkreises als ein Steuerpflichtiger behandelt werden, was ausschließt, dass einzelne Mitglieder nach außen selbstständig auftreten. Der EuGH spricht in den Entscheidungen von der „Verschmelzung zu einem Steuerpflichtigen“.

Nach dem Sinn der Organschaft, der Verwaltungsvereinfachung, müsse ein einziger Ansprechpartner vorhanden sein, der für die Organschaft nach außen und gegenüber der Finanzverwaltung auftritt. Es sei unionsrechtskonform, wenn ein Mitgliedstaat den Organträger dazu bestimmt, wenn dieser seinen Willen innerhalb der Organschaft durchsetzen kann und keine Gefahren für Steuerverluste bestehen.

3. Die finanzielle Eingliederung

Im Verfahren C-141/20 stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit der Voraussetzungen der nationalen finanziellen Eingliederung mit dem Europarecht. Der Organträger muss seinen Willen in der Gesellschaft durchsetzen können. Hierfür fordert die deutsche Rechtspraxis in der Regel eine doppelte Mehrheit von Anteilen und Stimmrechten.

Gegenüber der auch im Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG verankerten „Eingliederung“ steht die europarechtliche „enge Verbindung“ des Art. 11 Abs. 1 Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL). Diese Voraussetzung, so der EuGH in seiner Entscheidung C-141/20, ist nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft und nicht restriktiv auszulegen

Eine Mehrheit an Anteilen und Stimmrechten ist auch nicht per se erforderlich zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen, nach Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL. Damit sei im Ergebnis das Erfordernis der doppelten Mehrheit für die finanzielle Eingliederung unionsrechtswidrig.

4. Selbstständigkeit und Innenumsätze

Generalanwältin Medina führte in ihrem Schlussantrag in der Rechtssache C-141/20 ein Beispiel auf, woraus man schließen könnte, dass es keine Innenumsätze in der Organschaft gibt. Dieses Beispiel wiederholt der EuGH in seiner Entscheidung zwar nicht.

Durch die vierte Vorlagefrage der Rechtssache C-141/20 sah sich der EuGH jedoch dazu veranlasst, zur Selbständigkeit von Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe zu urteilen, obwohl der XI. Senat des BFH die Frage gar nicht so gestellt hatte. Der EuGH führt aus, dass für die Beantwortung der Frage, ob Leistungen zwischen einem Mitglied der Mehrwertsteuergruppe und den anderen Mitgliedern dieser Gruppe vorliegen, zu prüfen sei, ob das Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht, mithin, ob das Mitglied insoweit als selbstständig angesehen werden könne, als es seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübe und das mit der Ausübung dieser Tätigkeit einhergehende wirtschaftliche Risiko trage.

Dies führt den EuGH zu dem Schluss, dass die Organgesellschaften im Vorlageverfahren ihre wirtschaftlichen Risiken selbst trugen. Dies schließt er offenbar aus dem zivilrechtlichen Ausgleichanspruch und der Haftung nach § 73 AO. Daher seien diese Mitglieder nicht im Wege der Typisierung aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe als „nicht selbständig“ einzustufen.

Weitere Ausführungen hierzu unterlässt der EuGH jedoch. Fragen zur Unselbständigkeit bei Eingliederung nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG oder zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen, wie von der Generalanwältin aufgeworfen, bleiben letztlich unbeantwortet.

5. Unentgeltliche Leistungen

Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage des Verfahrens C-269/20 geht es um die steuerliche Behandlung von Reinigungsleistungen, die eine Tochter-GmbH für den hoheitlichen Bereich ihres Organträgers erbracht hat.

Dabei soll eine steuerbare unentgeltliche sonstige Leistung nur bei unternehmensfremden Tätigkeiten vorliegen, aber nicht bei unentgeltlichen Leistungen in den hoheitlichen Bereich.

6. Fazit

Die beiden EuGH-Urteile reihen sich in die lange Liste von Urteilen ein, mit denen der EuGH sukzessive das nationale Verständnis der Organschaft auf den Kopf stellt. Eine Gesetzesreform erscheint unausweichlich.

In den Urteilen bestätigt der EuGH zwar die Bestimmung des Organträgers zum Steuerpflichtigen der Mehrwertsteuergruppe. Damit bleibt der große von der Finanzverwaltung befürchtete Knall aus. Die finanzielle Eingliederung mit ihrem Erfordernis der Beteiligungs- und Stimmrechtsmehrzeit hält jedoch der Prüfung des EuGH nicht stand.

Die Ausführung des EuGH zur Selbständigkeit von Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe birgt schließlich erhebliches Konfliktpotential in Punkto Innenumsatz; insbesondere für nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Organkreise. Es gilt nun abzuwarten, wie die beiden BFH-Senate die EuGH-Urteile interpretieren und welche Schlussfolgerungen die Finanzverwaltung ziehen wird. Für die Vergangenheit dürfte jedenfalls Vertrauensschutz für Steuerpflichtige bestehen. Bei einer Änderung der Verwaltungspraxis wäre wohl eine Nichtbeanstandungsfrist zu erwarten.