Immer wieder kommt es vor, dass an die Finanzbehörden entrichtete Umsatzsteuerbeträge zurückgefordert werden müssen. Wie bereits im FGS-Blog erläutert, kann dabei ein von der Rechtsprechung entwickelter Direktanspruch des Leistungsempfängers vorliegen, wenn der Erstattungsanspruch Steuerbeträge betrifft, die an den Vertragspartner gezahlt und von diesem abgeführtworden sind (Rechtssache: Reemtsma). Mit Urteil v. 05.09.2024 (C-83/23) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Reichweite dieses sog. Reemtsma-Anspruchs weiter konkretisiert.
EuGH-Vorlage durch den BFH
In dem vom Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss v. 03.11.2022 (XI R 6/21) an den EuGH vorgelegten Verfahren kaufte die Klägerin von einem deutschen Unternehmen Boote, welche sich permanent in Italien befanden. Der Verkäufer stellte in der Folge Rechnungen an die Klägerin aus, in welchen er – fälschlicherweise – deutsche Umsatzsteuer auswies, die er gegenüber dem deutschen Finanzamt anmeldete und abführte. Zugleich machte die Klägerin einen entsprechenden Vorsteuerabzug geltend. Im Rahmen von Umsatzsteuer-Sonderprüfungen stellten die zuständigen Finanzämter jedoch fest, dass die Vorgänge nicht in Deutschland, sondern in Italien steuerbar waren. Sie änderten die Umsatzsteuer-Bescheide der Klägerin, indem sie die aus diesen Rechnungen durch die Klägerin in Abzug gebrachten Vorsteuerbeträge zurückforderten, da es sich insoweit um eine nicht abziehbare Steuer nach § 14c UStG handelte.
Anschließend wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Verkäufers eröffnet. Der Insolvenzverwalter des Verkäufers korrigierte die fraglichen Rechnungen und verzichtete in den berichtigten Rechnungen gänzlich auf einen Ausweis von Umsatzsteuer. Das Finanzamt zahlte die zuvor gemäß § 14c UStG geschuldete Umsatzsteuer vollständig an den Verkäufer zurück, wies den Insolvenzverwalter jedoch darauf hin, dass er in der Pflicht sei, die Lieferungen in Italien zu versteuern. Nichtsdestotrotz weigerte sich der Insolvenzverwalter, den Verkäufer in Italien umsatzsteuerrechtlich zu registrieren und der Klägerin eine Rechnung mit italienischer Umsatzsteuer auszustellen. Daraufhin verlangte die Klägerin von der Finanzverwaltung die Erstattung der Umsatzsteuer, welche sie an den – nun insolventen – Verkäufer gezahlt hatte.
Der BFH sah zwar in der Grundkonstellation eine mögliche Anwendung des Erstattungsanspruchs gegen die Finanzbehörde. Jedoch zweifelte er an, ob die vom EuGH in Bezug auf den sog. Reemtsma-Anspruch aufgestellten Grundsätze auch dann gelten, wenn an die Stelle der Rechnung mit dem inländischen Steuerausweis eine Rechnung mit einem höheren ausländischen Steuerausweis treten müsste. Insofern sei eine bloß nationale Sichtweise oder eine unionsweite Betrachtung möglich. Auch war sich der BFH nicht sicher, ob die Klägerin vor der Anspruchsstellung in Italien über den Zivilrechtsweg eine Rechnung mit italienischer Umsatzsteuer hätte erstreiten müssen. Daneben war für den BFH fraglich, ob die Finanzverwaltung bei Insolvenzfällen die zu Unrecht gezahlte Umsatzsteuer überhaupt zu erstatten hat oder ob nicht der Direktanspruch des Rechnungsempfängers vorrangig sein könnte.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH hält die Grundsätze der Reemtsma-Rechtsprechung im vorliegenden Fall für nicht anwendbar, weil die Finanzverwaltung die Umsatzsteuer bereits an den Verkäufer zurückerstattet hatte. Wäre der Klägerin ein Direktanspruch zugesprochen worden, hätte der Fiskus die Umsatzsteuer zweimal erstatten müssen, nämlich einmal an den leistenden und einmal an den leistungsempfangenden Unternehmer. Dem Erstattungsanspruch des Rechnungsausstellers komme dabei aber aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Umsatzsteuer ein Vorrang zu, da dieser aufgrund der Berichtigung der fraglichen Rechnung einen gesetzlichen Anspruch auf die Erstattung der Umsatzsteuer gegenüber der Finanzverwaltung habe. Hierbei sei es unerheblich, dass sich der Verkäufer vorliegend in einem Insolvenzverfahren befinde und die erstattete Umsatzsteuer damit in die Insolvenzmasse falle. Vielmehr stelle es eine unangemessene Belastung für die Finanzverwaltung dar, solche außerordentlichen Umstände, welche die übliche Kette unterbrechen, zu berücksichtigen.
Zudem sei es zwar ein Ziel der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL), auch Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuche zu verhindern. Jedoch könne der Finanzverwaltung nicht zugemutet werden, zu prüfen, ob der Insolvenzverwalter des Verkäufers tatsächlich die geschuldete italienische Umsatzsteuer erkläre oder sich eines Umsatzsteuerbetrugs strafbar mache.
Letztlich stellt der EuGH fest, dass es sich bei dem Reemtsma-Anspruch um eine Ausnahme handele, die nur dann zur Anwendung komme, wenn die Betreibung der Umsatzsteuer bei dem Vertragspartner unmöglich oder übermäßig erschwert sei. Dies erfordere, dass die Klägerin zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen müsse, um ihre Rechte anderweitig geltend zu machen. Dazu gehöre gerade auch die zivilrechtliche Klage auf Rechnungserteilung mit italienischer Umsatzsteuer.
Fazit
Der EuGH konkretisiert in seinem Urteil erneut den Anwendungsbereich zur Inanspruchnahme der Reemtsma-Ansprüche, indem er deutlich klar macht, dass diese nicht zu einer Doppelbelastung für die Finanzverwaltung führen dürfe. Ein Direktanspruch als Ausnahme komme nur dann in Betracht, wenn es für den betroffenen Unternehmer unmöglich bzw. übermäßig erschwert sei, die Umsatzsteuer bei seinem Vertragspartner einzufordern.
Der EuGH hat darauf verwiesen, dass die Klägerin auf zivilrechtlichem Weg eine Rechnung mit Ausweis italienischer Umsatzsteuer hätte anfordern müssen. Folglich ist davon auszugehen, dass der EuGH der Klägerin auch dann keinen Direktanspruch zugesprochen hätte, wenn die Finanzverwaltung die Umsatzsteuer nicht bereits an den Verkäufer zurückgezahlt hätte. Denn die Klägerin hatte den zivilrechtlichen Rechtsweg gegen den Verkäufer noch nicht beschritten und bedurfte damit keines „letzten Mittels der Mehrwertsteuerbetreibung“.